Die trübe Kehrseite der Revolte

THEATER Saul Rubineks Gesicht kennt man aus Hollywoodfilmen. Geboren wurde er in einem deutschen Lager für Displaced Persons. Am Sonntag hat sein Erstling „Schlechter Rat“ im Theater am Kurfürstendamm Premiere

Im DP-Camp Föhrenwald gründete Saul Rubineks Vater 1946 ein jiddisches Theater

VON ESTHER SLEVOGT

Über vierzig Jahre ist es her, dass Saul Rubinek zuletzt in Berlin gewesen ist, im epochalen Jahr 1968. Der junge kanadische Schauspieler war damals zwanzig Jahre alt und mit seinem Jugendfreund und Theaterkollegen, dem Regisseur John Palmer, auf Europatrip. Kurz vor ihrer Abreise aus Ottawa war der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King erschossen worden. Über Spanien waren Rubinek und Palmer im Mai 1968 nach Paris gereist und dort in den Höhepunkt der Studentenunruhen geraten. Vor den Schlagstöcken der Polizei und den fliegenden Pflastersteinen der revoltierenden Studenten flohen sie weiter Richtung Osten und landeten auf der Durchreise nach Prag ein paar Tage auch im geteilten Berlin, Europas Heart of Darkness.

Es war im Wesentlichen der Ruhm von Brechts Berliner Ensemble in Ostberlin, der die beiden jungen Theaterleute angezogen hatte. Der junge Palmer, erzählt Rubinek noch heute lachend, hatte im Kühlschrank in seiner Wohnung in Ottawa eine Brecht-Fotografie kleben, als Hommage an die erotischen Gedichte des jungen BB und poetischen Temperaturausgleich.

Aber Berlin war damals noch überall von den unheimlichen Ausdünstungen der Vergangenheit geprägt und den beiden jungen Juden mehr als unheimlich. Gegen das Unbehagen half auch der Besuch im Berliner Ensemble wenig, wo Uta Birnbaums Inszenierung „Mann ist Mann“ mit dem jungen Hilmar Thate auf dem Spielplan stand. Auch in Berlin revoltierten die Studenten. Schnell reisten die beiden jungen Männer also weiter Richtung Prag, wo aber die Atmosphäre nicht minder aufgeheizt war. In den USA wurde unterdessen Robert Kennedy erschossen. Einige Wochen später würden sowjetische Panzer den Prager Frühling niederwalzen. Aber da waren Rubinek und Palmer schon zurück in Ottawa.

Nun, fast ein halbes Jahrhundert später, kommt Saul Rubinek wieder nach Berlin, aus New York, wo er seit den 1970er Jahren lebt. Anlass ist die deutschsprachige Erstaufführung seines dramatischen Erstlings „Schlechter Rat“ im Theater am Kurfürstendamm. „Terrible Advice“, wie das Stück im Original heißt, führt das Elend von Leuten vor, die sich nach Nähe und Geborgenheit sehnen, aber am nächsten nur sich selber sind und im anderen eigentlich stets nur eine Art Nutztier sehen können: für den Sex, die materielle Versorgung oder gegen die Einsamkeit. Das Stück beschreibt sozusagen die trübe und bezugslose Kehrseite der Revolte (die ja auch eine sexuelle wurde), vor der Saul Rubinek und sein Freund John Palmer einst zu entkommen suchten.

Das Innerste nach außen

Sein Stück sei, auch wenn es nach außen eher wie ein Boulevardstück daherkomme, ein esoterisches Stück, sagt Rubinek, also eines, welches das Innerste seiner Figuren nach außen kehre. Und genau so habe er eigentlich schon als ganz junger Mann Theater gemacht, in seinen Anfängen in der jungen freien Szene Kanadas. „Damals, da waren wir jungen Theatermacher stolz, wenn wir aus der Improvisation Stücke entwickelten, die für das Publikum letztlich unverständlich blieben. Das war für uns der Nachweis: Wir machen richtige Kunst. Heute sehe ich das umgekehrt.“

Seine New Yorker Wohnung, durch die er während eines Skype-Interviews führt, ist voller Zeugnisse aus einem langen Theaterleben, darunter Plakate, Fotografien und Zeitungsausrisse. Bekannt ist Rubinek einem größeren Publikum vor allem durch seine Mitwirkung in diversen Hollywoodproduktionen geworden, an der Seite von Stars wie Michael Douglas, Anthony Hopkins oder Julia Roberts, von „Star Trek“ über „Wall Street“ bis hin zu Oliver Stones „Nixon“-Film.

Saul Rubineks Geschichte mit Deutschland reicht aber noch weit hinter das Jahr 1968 zurück, denn er wurde in Deutschland geboren. 1948 war das, in Föhrenwald bei München, einem Sammellager für Displaced Persons (DP), wie man damals die Millionen durch den Krieg staatenlos gewordenen Menschen nannte, darunter auch die osteuropäischen Überlebenden des Holocausts, die aus den KZs oder dem Untergrund kamen und nun im besetzten Deutschland Schutz und Hilfe der Alliierten suchten. Rubineks Eltern Frania und Israel hatten den Krieg im Versteck bei einer polnischen Bauernfamilie überlebt. In den 1980er Jahren hat Rubinek über die Geschichte seiner Eltern einen Dokumentarfilm gedreht. Im DP-Camp Föhrenwald gründete der Vater gleich 1946 ein jiddisches Theater. Neun Monate nach der Geburt von Sohn Saul wanderte die junge Familie nach Kanada aus.

Es war die große Leidenschaft für das Theater, die Israel Rubinek im Jahr 1937 als Siebzehnjährigen dazu gebracht hatte, seiner orthodoxen Familie davonzulaufen und einem jiddischen Theater beizutreten. Dort spielte er, bis im September 1939 Nazideutschland die Stadt annektierte. „Als kleiner Junge habe ich lange geglaubt, Hitler sei nur deswegen gekommen, weil er nicht wollte, dass mein Vater jiddisches Theater macht“, sagt Saul Rubinek. Jiddisch ist auch Saul Rubineks erste Sprache gewesen, was ihm 1967 half, als er mit einer Gruppe junger Theatermacher Georg Büchners „Woyzeck“ übersetzte und in einem Kaffeehaustheater in Ottawa in Szene setzte, mit Rubinek in der Titelrolle, damals 19 Jahre alt: „Ich glaube sogar, es war die kanadische Erstaufführung dieses Stücks.“

Zum Wochenende kommt Saul Rubinek also wieder nach Berlin. Er ist froh, dass sein Stück ausgerechnet in einem Theater gespielt wird, das von Max Reinhardt gegründet wurde, diesem großen Theaterkünstler, der trotzdem sein Publikum niemals aus dem Auge verlor und am Kurfürstendamm anspruchsvolles Boulevardtheater machen wollte. Und dann erzählt Saul Rubinek noch eine schöne Geschichte über seinen Vater, den theaterbegeisterten ältesten Sohn des gestrengen Thoragelehrten Rubinek aus Lodz. Der nämlich habe seinen ältesten Sohn einst nicht kampflos an das Theater verlieren wollen und ihn eines Tages nach einer Vorstellung zur Rede gestellt. „Wie konntest du dich so weit von Gott entfernen?!“, fragt er den Sohn vorwurfsvoll. Und der Sohn antwortet: „Wir spielen hier Geschichten für Menschen, in denen sie sich selbst und ihr Leben erkennen können sollen.“ Schließlich macht der Vater seinen Frieden mit der Entscheidung des Sohns für das Theater: „Vielleicht bis du ja doch näher an Gott, als ich wusste.“ Und dieses Wort, sagt Saul Rubinek, sei für ihn eigentlich immer noch das Gültigste, was er je über Theater, über Kunst überhaupt gehört hätte.

■  Theater am Kurfürstendamm: „Schlechter Rat“ von Saul Rubinek. Deutsch von John Birke. Mit Uwe Ochsenknecht, Oscar Ortega Sánchez, Charlotte Schwab und Julia Malik. Regie: Nicolai Sykosch. Premiere am 23. Februar