Träume, Herzen, Schmetterlinge

DUBSTEP Die 24-jährige Katy B trägt schwer an den Pophoffnungen Großbritanniens – auch auf ihrem neuen Album „Little Red“

VON PHILIPP RHENSIUS

Seltsam, aber als ich die Musik von Katy B Ende 2010 zum ersten Mal hörte, wurde sie nicht im Radio gespielt, wie es sich für Chartspop gehört, sondern im FWD-Club, damals der zentrale Treffpunkt der Dubstepszene in East London. Dort hatte der Dubstep-Miterfinder Skream den von seinem Kollegen Benga produzierten Track „Katy on a mission“ aufgelegt – ein Song, der bald darauf zum Hit wurde. Inzwischen ist Kathleen Brien in ihrer Heimat ein Star.

Der atmosphärische Kontrapunkt, den der helle Gesang inmitten der düsteren Dubstep-Tracks erzeugte, hätte verstörender nicht sein können. Nicht nur, dass die Clubkids verwundert aufschauten, als erlebten sie eine akustische Halluzination. Die Magie der intimen, meditativen Rezeptionshaltung, wegen der viele den nur spärlich beleuchteten Club aufsuchten, war plötzlich unterbrochen.

Gesang als Emotionsträger

Vielleicht für immer. Denn Katy Bs kurz darauf erschienenes Debütalbum „On a Mission“ war die Geburtsstunde eines neuen Dubstep-Zeitalters. Wieder einmal hatte der Gesang als dominanter Emotionsträger über die experimentellen Klanglandschaften eines innovativen Clubmusikstils gesiegt – wie zehn Jahre zuvor bei Garage oder Drum ’n’ Bass. Von nun an schmückten sich unzählige Popstars, wie etwas Britney Spears, mit dem zum neuesten Trend erklärten Sound, der längst zu einer holzschnittartigen Schablone von Dubstep geworden war.

Doch der „Untergang“ des Dubstep war der Beginn von Katy Bs Karriere. Und diese entspricht ganz der vermeintlich altbekannten Dialektik der Popgeschichte, wonach der Mainstream den neuesten Underground-Stil findet und von dessen musikalischen Grundzutaten profitiert.

Doch die ohnehin brüchig gewordenen Grenzen zwischen Underground und Mainstream verlaufen hier anders. Denn Katy B balanciert seit jeher auf dem schmalen Grat zwischen radiotauglichem Dancepop und innovativer Clubmusik. Auch wenn ihr neues Album „Little Red“ im Gegensatz zum Debüt der 24-jährigen Sängerin wesentlich kohärenter und popaffiner klingt.

In „Crying for No Reason“, dem Song, der das geschmackliche Restrisiko wohl am meisten herausfordert, versinkt ihre Stimme in einem Meer aus überzuckerten Klaviermelodien; dabei versucht der Gesang, den Trennungsschmerz mithilfe von Worthülsen zu plausibilisieren. Interessanter sind die anderen Songs, auch wenn diese innerhalb der homogenisierten Popcharts ebenso wenig auffallen. Generell schlagen die von Housebeats getragenen Songs zwar keine allzu hohen Melodiebögen, während die Hooklines stets mitsingtauglich sind und 32-taktige Strophen zuverlässig auf 16-taktige Refrains folgen.

Alle 17 Songs wurzeln in der von Retrosounds geprägten UK-Bassmusik. Die blechernen Snares im Auftakt „Next Thing“ erinnern an Neunziger-Jahre-House, während der verführerische Swing in den Hi-Hats auf UK-Garage verweist.

Aber es sind nicht nur die Klangfetzen aus einer glückseligen Rave-Ära, die Katy B die Nähe zur Clubkultur verleihen. Es sind zum einen ihre Produzenten, etwa Jacques Greene, die sonst eigenwilligen Breakbeat-House in Kleinauflagen produzieren, insbesondere Geeneus, auf dessen Label Rinse sie veröffentlicht.

Weltschmerz junger Briten

Rinse FM ist ein ehemaliger Piratensender, der mit Grime, Dubstep und Garage den Soundtrack verkiffter Nachmittage vieler junger Londoner lieferte. Zum anderen ist es die Perspektive des lyrischen Ichs, oft berichtet es aus der Mitte des Dancefloors. Hinter den „Dreams“, „Hearts“ oder „Butterflies“ stecken nicht nur Buzzwords von generalstabsmäßig geplanten Charthits. Vielmehr offenbart sich darin der Weltschmerz einer von Einsamkeit und Zukunftsangst verstümmelten Generation junger Briten, die das Bedürfnis nach Transzendenz nur noch im Club ausleben kann.

Nichts könnte diesen Zustand zwischen Melancholie und Eskapismus besser beschreiben als eine Zeile aus Katy Bs Song „5am“: „A little loving like Valium I need somebody to knock me out“. Sie ist einfach unprätentiös und verrät ihre Wurzeln im Underground auch nicht. Ihre Songs schaffen es unglaublich gut, ein von Fatalismus und Unsicherheit geprägtes Lebensgefühl hinter süßlichem Dancepop zu verbergen. Und genau deshalb ist Katy B momentan der interessanteste Popstar Englands.

■ Katy B: „Little Red“ (Sony)