Soziale Anerkennung

LITERATUR Alina Bronsky führt in ihrem neuen Roman „Nennt mich einfach Superheld“ einen Problemjugendlichen in die Familie zurück

Familien: einerseits zerbrechlich – andererseits unendlich flexibel

Der 16-jährige Marek hat ein Problem, das so existenziell ist, dass er nicht mehr unter Menschen geht. Ein Jahr zuvor wurde ihm das Gesicht von einem Kampfhund zerfleischt, und seitdem fühlt der Junge sich wie ein Monster. Mit dem Theaterspielen ist es aus, die Schule und alle sozialen Kontakte hat er abgebrochen, seine nette Freundin zum Teufel geschickt. Seine alleinerziehende Mutter kommt nicht an ihn heran.

Da tritt eine eigenartige kleine Selbsthilfegruppe auf den Plan. Dass Marek unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu der Gruppe von Jugendlichen mit unterschiedlichen Behinderungen gelockt wurde, stört ihn fast umgehend kaum noch, da er sich in das wunderschöne Mädchen Janne verliebt, das im Rollstuhl sitzt. Von Beginn an ist allerdings etwas Merkwürdiges um diese Gruppe. Der Mann, der sie leitet und der in Mareks schnoddrigem Ich-Erzähler-Jargon nur „der Guru“ genannt wird, scheint weder besondere Erfahrung als Therapeut noch einen offensichtlichen Plan zu haben. Immerhin soll auf einer gemeinsamen Reise ins Berliner Umland eine Art Film realisiert werden. Und so verschieden die Gruppenmitglieder und ihre jeweiligen Probleme auch sind, wachsen sie fast schon zu einer kleinen Familie zusammen. Doch da ereilt Marek plötzlich die schreckliche Nachricht, dass sein Vater gestorben sei, und so muss er abreisen, als es gerade verspricht, interessant zu werden.

Wie im Grunde alle Romane von Alina Bronsky, die unter anderem durch ihre russlanddeutsche Herkunft auch selbst über eine multipel durchmischte Familiengeschichte verfügt, ist auch „Nenn mich einfach Superheld“ ein Familienroman. Das Thema ist literarisch unerschöpflich, wenn man Familie als das hochkomplexe Konzept begreift, als das es in Bronskys Romanen immer wieder auftritt. Als fraglos akzeptiertes soziales Konstrukt, das Halt und Identität verleiht, gleichzeitig aber sehr zerbrechlich ist und sich dann doch wieder als unendlich flexibel erweist, da es immer wieder neu definiert werden kann.

In Bronskys gefeiertem Debüt „Scherbenpark“ (2008) suchte die jugendliche Heldin sich neben ihrer desolaten Kernfamilie, die sie aus eigener Kraft zusammenhalten muss, da sie nur noch aus ihr selbst und den kleineren Geschwistern besteht, eine zweite Familie, aus der sie selbst wiederum Kraft und soziale Anerkennung schöpft. In „Nennt mich einfach Superheld“ sind die Abenteuer von Marek in eine ähnliche Struktur gebettet. Zwar hat der Unfall mit dem Kampfhund zu einer Entfremdung von seiner Umgebung, und damit auch von seiner Mutter, geführt.

Die Kleinstfamilie ist durch die Krise vorübergehend dysfunktional geworden. Dafür tritt zunächst die Therapiegruppe als neue Wahlfamilie in Erscheinung. Nach dem Tod des fernen Vaters, der vor Jahren mit dem einstigen Au-pair-Mädchen eine neue Familie gegründet hat, ersteht schließlich sogar Mareks eigene Familie wieder in neuer – und größerer – Zusammensetzung. Dass er mit der jugendlichen Witwe des Vaters im Bett landet und dass deren Mutter wie eine ukrainische Version seiner eigenen Mutter aussieht, gehört zu den kleinen Extravaganzen, die es in Bronsky-Familien gibt und die dafür sorgen, dass diese innovativen Familienkonzepte nie langweilig werden.

Welche Rolle genau die Therapiegruppe in diesem Kosmos spielt, kommt fast nebenbei am Schluss auch noch heraus. Und das alles liest sich so schwungvoll weg, dass man dann fast vergessen könnte, sich doch noch zu fragen, wozu die Autorin eigentlich diese ganze Behindertenthematik aufwendig in den Roman eingeführt hat – immerhin einen Blinden, eine Lahme, einen Todgeweihten und einen psychisch Kranken –, wenn sie dann doch nur dekoratives Beiwerk für die Selbstfindung des Helden bleibt. Das Problem, das der Protagonist hat, liegt ja weniger in einer Behinderung als in einem aufgrund seines Narbengesichts empfindlich gestörten Selbstbewusstsein. Daher ist es eigentlich eine spannende Idee, so einen Kandidaten zwischen lauter Leute zu setzen, die es mit einem ausgewachsenen physischen Handicap zu tun haben. Vielleicht war es etwas zu viel Stoff für einen einzigen Roman. Er hätte wahrscheinlich locker für zwei gereicht. KATHARINA GRANZIN

■ Alina Bronsky: „Nenn mich einfach Superheld“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 238 S., 16,99 €