Sozialpädagoge über Jugendhilfe: „Wir erleben ein Rollback“

Manfred Kappeler initiierte mit Ulrike Meinhof die Heimkampagne. Er begründete eine Reform der autoritären Erziehungsvorstellungen.

„Heute geht es um andere, nicht weniger diskriminierende Bilder von erziehungsschwierigen Mädchen und Jungen.“ Bild: ovokuro/photocase.com

taz: Herr Kappeler, warum kommen immer mehr Kinder und Jugendliche in geschlossene Heime?

Manfred Kappeler: Die Kolleginnen in den Jugendämtern sind überfordert und wissen oft nicht, was sie machen sollen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Jugendhilfe finanziell nicht entsprechend ausgestattet ist, um eine Hilfe zu entwickeln und Umfelder zu organisieren, die solche Kinder brauchen. So ist die schnelle Lösung: aus der Familie rausnehmen und wegschließen.

Die Geschichte lehrt, dass diese Institutionen besonders anfällig für Missbrauch sind. Ist das alles vergessen?

Diese Debatte läuft seit 100 Jahren. Schon früher wurden diese Einrichtungen kritisiert und Alternativen ausprobiert. Ich selber habe in den 60er Jahren ein Heim mitentwickelt, das Jugendliche aufgenommen hat, die in den Fürsorgeerziehungsanstalten als nicht mehr erziehbar definiert wurden.

Wie sah das aus?

Offene Bungalows, keine geschlossenen Türen, keine geschlossenen Fenster. Und es sind kaum Jugendliche weggelaufen. Sie wussten, dass sie wiederkommen konnten. Sie mussten keine Strafen befürchten. Was aus diesen Jugendlichen später geworden ist, als sie sich entfalten konnten, war sehr erfreulich. Aber das Konzept galt als zu teuer. Doch vor allem hat es das bestehende System infrage gestellt. Und so blieb es lediglich bei einzelnen Modellen.

ist 75 Jahre alt, arbeitete 25 Jahre als Sozialpädagoge in der Heimerziehung, der Offenen Jugendarbeit und in der Drogenarbeit. Von 1989 bis 2005 Professor für Erziehungswissenschaften an der TU Berlin. 2010 Mitglied der Expertenkommission zur sexuellen Gewalt in pädagogischen Einrichtungen und Sachverständiger im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zur Aufklärung der Geschichte der Heimerziehung der 1940er bis 1970er Jahre in der Bundesrepublik.

Dennoch beurteilten Pädagogen die geschlossene Unterbringung damals deutlich kritischer als heute.

Ja. Die geschlossene Unterbringung, die hat es bis 1990 im Gesetz gegeben. Dann wurde das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz eingeführt. Dort war die geschlossene Unterbringung gestrichen.

Aber nun kamen die Kinder und Jugendlichen über den Umweg des Bürgerlichen Gesetzbuches ins Heim.

Ja, aber entscheidend sind die Familiengerichte. Und das ist jetzt die große Frage, wie die Familiengerichte heute eigentlich aufgestellt sind.

Wie sind sie aufgestellt?

Im Gesetz stand, dass die Jugendlichen und Eltern von den Richtern gehört werden sollen. Das ist alles nie passiert. Es wird fast immer aufgrund von Aktenmappen entschieden. Im Gesetz stand auch, dass die Vormundschaftsrichter den Werdegang des Kindes begleiten und kontrollieren müssen. Das haben die nie gemacht.

Die Zwischenschaltung der Familiengerichte bot also nicht den erhofften Schutz?

Nein, auch deswegen nicht, weil die Richter an Familiengerichten nicht qualifiziert sind. Die müssten eigentlich für diese Aufgabe eine spezielle Ausbildung bekommen, damit die in der Lage sind, sich auch selbstständig ein Bild zu machen.

Die Gesetze entsprechen den Reformwünschen, trotzdem existieren die Probleme. Wieso wurde da nicht nachjustiert?

In den 70er, 80er Jahren fand ein Paradigmenwechsel im Denken der Praktiker und Träger statt. Mit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) kam es zur Ausdifferenzierung der Jugendhilfe. Das führte zu einer Kostenexplosion, die von den Kommunen nicht mehr bewältigt werden konnte. Der Jugendhilfeetat wurde nicht erhöht. Der war schon um 1990 gedeckelt. Das schöne Gesetz ist am Widerstand der Kämmerer in den Kommunen gescheitert.

Diese Fehler führten zur Rückkehr repressiver Pädagogik?

Es folgte eine politische Umdeutung. Die tollen Reformideen, die da in Paragrafen gegossen waren, funktionierten so nicht. Also wurde Stück für Stück auf repressive Maßnahmen zurückgegriffen. Es ist uns nicht geglückt, dieses Rollback zu verhindern.

Das Gesetz stammt aus dem Jahr 1990. Welche Rolle spielte dabei die deutsche Einigung nach 1989?

Mit Ost und West prallten Kulturen aufeinander, die eigentlich überhaupt nicht vereinbar waren. Das hat große Verwerfungen provoziert. Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz war fertig, als die Mauer fiel und trat am 1. Oktober 1990 in Kraft. Am 3. Oktober war die Wiedervereinigung. Dieses Gesetz ist gemacht worden für Verhältnisse in der alten Bundesrepublik.

In der DDR hatte es kein 68 und keine Reformpädagogik gegeben. War das repressive Vorgehen gegen Jugendliche in der ostdeutschen Diktatur auch politisch motiviert?

Das deutsche Institut für Jugendforschung in Leipzig hatte Mitte der 80er Jahre festgestellt, dass es zu immer größeren Loyalitätsbrüchen von Heranwachsenden mit der DDR-Kultur kam. Es kam zu Verfolgungen von autonomen Jugendkulturen.

Und plötzlich kam die Wiedervereinigung.

Auch die Einrichtungen der offenen Jugendarbeit der FDJ, Jugendclubs und Jugendhäuser, wurden abgewickelt. Und dann kamen diese Probleme mit der rechten Jugendszene in der DDR. Die Bundesregierung legte ein Programm auf gegen Gewalt und Rassismus. Da wurden Millionen reingepumpt. Was finanziert werden sollte, musste diesem präventiven Gesichtspunkt genügen. Alles stand unter der Überschrift Gewaltprävention. Und das führte zu einer umfassenden Stigmatisierung der Jugendlichen. Heute müssen Sie Prävention versprechen, damit Sie überhaupt noch Geld bekommen. Wenn Sie sagen: Wir sind ein gesellschaftlich unabdingbares Sozialisationsangebot, was nicht primär unter Gesichtspunkten der Gefahrenabwehr gesehen werden darf, sondern eine Unterstützung für ein gutes Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen in dieser Gesellschaft, dann wird es schwierig.

So veränderte sich das Bild über die Jugendlichen?

Wenn eine Gesellschaft Kinder und Jugendliche primär unter dem Aspekt des Risikos betrachtet, dann wird der Blick total verengt. Kollegen, die die vorherige Reformdebatte mitgemacht hatten, stiegen reihenweise aus und gingen in die innere Emigration. Es gab eine große Frustration.

Wie kommt es, dass sich die kirchlichen Heime der alten Bundesrepublik und die Jugendwerkhöfe der DDR so frappierend in ihren Misshandlungen ähnelten?

Der Erziehungspraxis wurde zwar politisch jeweils unterschiedlich begründet in Ost und West, aber im Kern gab es keinen Unterschied. Der Wille sollte gebrochen werden. Wer die normativen Erwartungen der jeweiligen Gesellschaft nicht erfüllte, musste bestraft und angepasst werden. Damit sie wissen, was ihnen droht, musste gegenüber anderen Kindern und Jugendlichen ein Exempel statuiert werden. Heute befinden wir uns wieder auf dem Weg dorthin. Das ist das Problem.

Die Geschichte wiederholt sich also?

Lebensgeschichtlich ist das für mich eine harte Erfahrung. Ich habe in den 80er Jahren geglaubt, dieser Umgang mit Jugendlichen sei überwunden. Doch es geht alles wieder los. Ich bin schockiert, wenn ich mit Kollegen und Kolleginnen aus den Jugendämtern rede oder auch mit Therapeuten.

Welches Menschenbild wieder herrscht?

Wir haben damals geglaubt, wir hätten die Sprache verändert. Wir haben den Verwahrlosungsbegriff abgeschafft. An den Fachhochschulen und Universitäten wurde gelehrt, wie man über ein Kind, eine Familie so berichten beziehungsweise schreiben kann, damit es nicht diskriminierende Vermerke, Berichte und Gutachten in den Jugendamtsakten gibt. Wir haben Fallseminare gemacht und Akten der Jugendämter studiert. Wir sahen uns alle Beteiligten an, die mit dem Kind zu tun hatten.

Aus dieser normativen Arbeit ist heute eine Art Dienstleistung geworden.

Die Jugendämter haben sich von Unternehmensberatungsgesellschaften informieren lassen, wie sie nach Gesichtspunkten von Unternehmen organisiert werden können. Und dazu gehörte ein striktes Zeitmanagement. Ein sogenannter Produktkatalog wurde eingeführt. Die Jugendämter haben alles, was sie unternahmen, als Produkte definieren müssen. Damit wurde der Prozesscharakter, die notwendige Ergebnisoffenheit sozialpädagogischen Handelns stark eingeschränkt.

Ergebnisoffenheit?

Ja, denn Jugendhilfe ist ein prozessuales Geschehen, das offen gehalten werden muss, dessen Ergebnisse nicht schon am Anfang festgelegt werden dürfen, dessen Verlauf immer wieder zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen reflektiert, überprüft und gegebenenfalls verändert werden muss. In autoritären Einrichtungen wie den Heimen der Haasenburg ist das schon strukturell ausgeschlossen, bewusst nicht gewollt. Das gilt für alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die glauben, Heranwachsende mit Freiheitsentzug auf ein gelingendes Leben in Freiheit vorbereiten zu können.

Warum ist es dann so angelegt?

Die Formulierung eines Produkts als Ergebnis einer Jugendhilfeintervention ist gesetzlich nicht zulässig, da das geltende Kinder- und Jugendhilfegesetz vorschreibt, dass alle an der Erziehung und Entwicklung eines Kindes Beteiligten in Hilfekonferenzen und in der Hilfeplanung darüber nachdenken, was die jeweils richtige Unterstützung wäre. An diesem Aushandeln muss das Kind in einer seinen Möglichkeiten entsprechenden Weise beteiligt werden.

Das wurde abgeschafft?

Noch nie in meiner über 50-jährigen Jugendhilfearbeit ist die Schere zwischen einer entwickelten Sprache auf der einen Seite und einer dem widersprechenden Praxis auf der anderen Seite so groß gewesen wie heute.

Wie lässt sich das ändern?

Die Beurteilungskriterien sind immer von der Dominanzkultur einer Gesellschaft abhängig. Also wenn in den 60er Jahren ein Mädchen einen Minirock trug und mit einem Jugendlichen auf dem Moped abends um zehn durch die Gegend fuhr, konnte es passieren, dass es als sexuell verwahrlost dem Jugendamt gemeldet und in ein Erziehungsheim gebracht wurde. Heute geht es um andere, nicht weniger diskriminierende Bilder von erziehungsschwierigen Mädchen und Jungen. Die Jugendhilfe muss diese Bilder stets kritisch hinterfragen und darf die Sprache, in der sie verbreitet werden, nicht übernehmen.

Was fordern Sie?

Es muss unabhängige Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und ihre Familien geben. Vom ersten Kontakt mit dem Jugendamt bis zum Beschluss einer Maßnahme. Die positiven gesetzlichen Regelungen der Kinder- und Jugendhilfe können nur realisiert werden, wenn es Instanzen gibt, die das kontrollieren. Doch die staatliche Kontrolle ist innerhalb dieser Systeme selbst angesiedelt. Gerade das Beispiel des Versagens der brandenburgischen Heimaufsicht, einschließlich des zuständigen Jugendministeriums gegenüber der Haasenburg, zeigt, was dies für katastrophale Folgen für Kinder und Jugendlichen haben kann, die in so einer Einrichtung leben müssen.

Dort überwachten drei Leute Hunderte von Heimen.

Eines der wesentlichen Ergebnisse der Analyse der Geschichte der Heimerziehung ist ja, dass alle Kontrollinstanzen, die es stets gegeben hat, versagten.

Gibt es keine Kritiker der gegenwärtigen Entwicklung?

Auf den Kinder- und Jugendhilfetagen der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe – das ist die Dachorganisation der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland – wurde in den letzten Jahren eine Repolitisierung der Jugendhilfe gefordert. Gegenwärtig entstehen an vielen Orten Zusammenschlüsse kritischer Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen. Nur durch solche Vernetzungen können sich Kollegen und Kolleginnen in Jugendämtern und in Einrichtungen aus der frustrierenden Einzelkämpferposition befreien, Zumutungen zurückweisen und Veränderungen im Interesse der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen durchsetzen. Da wächst etwas. Gleichzeitig gibt es aber auch immer mehr Befürworter der geschlossenen Unterbringung.

Und die Politik?

Selbst Mitglieder der Grünen im Bund, in den Ländern und Kommunen, sind nach der Haasenburgdebatte auf die Idee gekommen, dass die freiheitsentziehenden Maßnahmen nun gesetzlich geregelt werden müssten. Das ist eine Katastrophe. Diese Leute sagen, die freiheitsentziehenden Maßnahmen werden missbraucht. Aber: tatsächlich sind diese Maßnahmen selbst der Missbrauch.

Würde es helfen, die Jugendhilfe zu verstaatlichen?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wesentliche Innovationen in der sozialen Arbeit nur im außerstaatlichen Bereich möglich waren. Ich war 25 Jahre in der Praxis, bevor ich Professor wurde, und in dieser Zeit habe ich nur in alternativen Projekten gearbeitet, die, bis auf zwei Ausnahmen, bei freien Trägern und Initiativen möglich waren. Im Prinzip halte ich die in Deutschland bestehenden Regelungen für das Verhältnis von Staat und Verbänden/Initiativen in der sozialen Arbeit für gut. Und in der Kinder- und Jugendhilfe hat der Staat, das heißt die Jugendämter, die Landesjugendämter und die zuständigen Ministerien, sowieso die gesetzlich festgeschriebene Gesamtverantwortung. Er müsste sie nur auch verantwortlich wahrnehmen. Stattdessen zieht sich der Staat immer mehr aus seinem im Grundgesetz Art. 6 formulierten „Wächteramt für das Kindeswohl“ zurück und überlässt es einem angeblich sich selbst regulierenden Markt der Kinder- und Jugendhilfe, der stark von Profitinteressen bestimmt wird und so Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu Objekten von Marktstrategien macht.

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