Das Backsteinhaus steht hier nicht mehr

SPIELFILM AUS CHINA „Shanghai, Shimen Road“ von Haolun Shu lässt Zeiten, Klassen und Lebensvorstellungen aufeinanderprallen

Schanghai im Sommer 1988. Der 17 Jahre alte Xiaoli lebt bei seinem Großvater in der Shimen, einer engen, dicht besiedelten Straße mit kleinen alten Reihenhäusern aus Backstein. Seine Mutter ist in die USA ausgereist. Der Sohn soll bald nachkommen. Die Mutter hat ihm eine Kamera geschenkt, mit der Xiaoli begeistert seine Umgebung fotografiert. Gesichter, Architektur, Athmosphären, alles in Schwarz-Weiß.

Sein großer Traum ist es, einmal der chinesische Bresson zu werden. Der 1908 geborene Henri Cartier-Bresson war der berühmteste Fotograf der Welt und hatte die Fotoagentur Magnum gegründet.

Doch zunächst beginnt sich Xiaoli für Mädchen zu interessieren; für die schöne Lamni, die in der Nachbarschaft wohnt und in einer Fabrik arbeitet, und für seine Klassenkameradin Lili, die vor Kurzem aus Peking nach Schanghai gezogen ist.

Es ist die Zeit, in der sich China nach den furchtbaren Jahren der Kulturrevolution langsam dem Westen öffnete, als viele Chinesen am kommunistischen Regime zu zweifeln begannen.

Verschiedene Zeiten, Klassen, Lebensvorstellungen prallen in dem Film aufeinander; die vorrevolutionäre Vergangenheit, in der in dem Viertel vor allem Menschen aus der Mittelklasse wohnten. Die 60er Jahre, die Zeit der Kulturrevolution, in der hier Arbeiter angesiedelt wurden, die so dicht beieinander wohnten, dass es für die einzelnen Bewohner so gut wie keine Privatsphäre gab, und die Zeit Ende der 80er Jahre mit der studentischen Demokratiebewegung und den Träumen vom Westen.

Er steht abseits

Der Großvater, der Xiaoli das Fotografieren beibringt, repräsentiert die alte Zeit. Während der Kulturrevolution wurde er verfolgt und bislang noch nicht rehabilitiert. Die schöne Lamni steht für die Teile der materialistisch gesinnten Arbeiterklasse, die sich mit dem wohlhabenden Westen verbinden will; Lili repräsentiert den Idealismus der protestierenden Studenten.

Xiaoli steht als Beobachter immer ein bisschen abseits. In der beginnenden Liebesgeschichte ist er schüchtern. Er widerspricht, aber nicht laut. Als in der Schule die Zeit der Kulturrevolution behandelt wird, als der Lehrer sagt, die Opfer seien alle rehabilitiert worden, sagt er, das stimme nicht, sein Großvater warte ja immer noch auf die Rückgabe der Fotos, die der Geheimdienst damals beschlagnahmt hatte.

Xiaolis erste Liebe, Lamni, verfällt den materialistischen Reizen und beginnt sich zu prostituieren; Lili ist Teil der protestierenden Studenten, mit denen er sympathisiert, ohne sich ihnen ganz anzuschließen.

Im amerikanischen Sender Voice of America erfährt er von der gewaltsamen Zerschlagung der Demokratiebewegung.

„Shanghai, Shimen Road“, der erste Spielfilm von Haolun Shu, ist ein sehr schöner kleiner Coming-of-age-Film mit wunderbaren Alltagsszenen und nostalgischen Elementen, die in vergleichsweise billigen Produktionen bekanntlich viel besser zum Tragen kommen können als in Filmen mit großem Budget.

Die Studentenbewegung scheiterte; das Nachbarsmädchen, in das der Junge verliebt war, verschwindet und taucht beschädigt, als eine andere, wieder auf. Die Straße, in der der Held seine Jugend verlebte, gibt es so nicht mehr. Wo einst die kleinen Backsteinhäuser und engen Gassen waren, stehen nun 50-stöckige Hochhäuser. In einem der letzten alten Häuser, das der Familie des Regisseurs gehört, wurde der Film gedreht.

DETLEF KUHLBRODT

■ „Shanghai, Shimen Road“. Regie: Haolun Shun. Mit Ewen Cheng, Xufei Zhai u. a. China 2011, 85 Min.