Die Architekturikone

BAUHAUS ARCHIV BERLIN Wie das Neue Bauen salonfähig wurde. Walter Müller-Wulckow und seine vierbändige Reihe der Blauen Bücher zur zeitgenössischen Architektur

VON RONALD BERG

„Leiter weg!“ – „Bänke, Menschen, Papierkorb weg! Erdhaufen weg!“ – „Kontraste verstärken.“ – „Himmel zurückätzen!“ – „Die drei Mädchen vom Eckpfeiler weg!“ So oder so ähnlich lauten die Anweisungen von Verleger und Autor zur Retusche der Fotografien für die vier Bände zur „Deutschen Baukunst der Gegenwart“. Es scheint fast, als ob ein allmächtiger Demiurg nach Belieben über die im Foto wiedergegebene Wirklichkeit bestimmen konnte. Bilder zu beschneiden gehörte ebenfalls zur Routine bei dem wohl meistverbreiteten und damit einflussreichsten Publikationswerk zur modernen Architektur aus der Weimarer Republik. Die Titel der vier Bände lauteten: „Bauten der Arbeit und des Verkehrs“ (1925), „Wohnbauten und Siedlungen“ (1928), „Bauten der Gemeinschaft“ (1928) und Schließlich „Die Deutsche Wohnung“ (1930).

Zwar waren andere Titel in der Reihe der „Blauen Bücher“ erfolgreicher – etwa die „Deutschen Dome“ oder „Tiere in schönen Bildern“ – aber mit einigen zehntausend verkauften Exemplaren rangierten die von Walter Müller-Wulckow zwischen 1925 und 1932 im Verlag von Karl Robert Langewiesche herausgegebenen Bilderbücher zur „Deutschen Baukunst“ weit vor anderen einschlägigen Publikationen. Die heute so berühmten Bauhaus-Bücher kamen beispielsweise zu ihrer Zeit über eine 1.000er Auflage kaum hinaus.

Das Bauhaus-Archiv zeigt jetzt eine vom Niedersächsischen Landesmuseum in Oldenburg übernommene und an seine beengten Verhältnisse angepasste Ausstellung mit rund 100 Originalfotografien, die im Zusammenhang mit der Publikation der „Deutschen Baukunst“ stehen. Die Fotos stammen aus dem im Oldenburger Museum verwahrten Nachlass von Walter Müller-Wulckow. Der Kunsthistoriker war dort von 1921 bis 1951 Direktor.

Die Auswahl besteht hauptsächlich aus Aufnahmen, die unter den 451 veröffentlichten in den Büchern fehlen. Sie machen aber den Entstehungsprozess der Bildbände deutlich. Dementsprechend ist die Ausstellung nach Arbeitsschritten wie „Sammeln“, „Veröffentlichen“, „Anordnen“ oder „Bearbeiten“ gegliedert. Dazu kommen Beispiele aus der Korrespondenz, die mit der Beschaffung der Bilder in Zusammenhang stehen. Die Fotografen interessierten den Herausgeber damals wenig. Müller-Wulckow bezog seine Bilder in der Regel direkt von den Architekten. Zwar kann man jetzt auch Aufnahmen einiger prominenter Fotografen wie Alfred Renger-Patzsch, Lucia Moholy oder Hugo Schmölz bewundern, für die meisten unter den Tausenden von Aufnahmen aus dem Nachlass ist der Bildautor aber bis heute nicht geklärt.

Das ganzseitige Foto

Stilistisch musste alles Wesentliche und Typische der zum Teil durch Recherchereisen vor Ort von Müller-Wulckow ausgesuchten Architekturen in einem einzigen Bild ausgesagt werden. Die Bilder standen mit knapper Angabe von Architekt, Ort und Jahr jeweils ganzseitig in den Büchern mit dem blauen Umschlag. Müller-Wulckow kreierte damit Architekturikonen von gleichsam universeller Gültigkeit. Dabei fungierte Müller-Wulckow durchaus nicht als Propagandist des Neuen Bauens, wie es etwa Bauhausdirektor Walter Gropius oder Siegfried Giedion in den 20er-Jahren mit ihren Büchern zum internationalen Bauen waren. Die Schau zeigt auch solche zeitgenössische Publikationen zum Vergleich. In der Auswahl verfolgte Müller-Wulckow vielmehr keinerlei Präferenzen. Neutralität war sein Programm. Und so finden sich so gut wie alle bedeutenden und wichtigen Architekten der Zeit bei Müller-Wulckow vertreten: Gropius, Mies, Mendelsohn, Poelzig, Bruno Taut, Behrens. Die Neuerer (bis auf Scharoun) waren dabei, aber auch Leute wie Paul Bonatz mit seinem Stuttgarter Bahnhof, also die konservative Schule, fand Berücksichtigung.

Das penetrant „Deutsche“ bei den Blauen Büchern, das sich auch bei Müller-Wulckow im Titel seiner Bände findet, war damals kaum so auffällig wie heute. Erklärlich wird das Deutschtümelnde aus der Tatsache, dass die Idee für die „Deutsche Baukunst“ bis in die Kriegszeit des Jahres 1916 zurückreicht. Die patriotische Gesinnung blieb erhalten, als der erste Band schließlich 1925 erschein. Müller-Wulckow entwirft mit seiner „Deutschen Baukunst“ das Bild einer schöpferischen Nation. Die Bauten seiner damaligen Gegenwart reihen sich ein in die Tradition deutscher Geistesgröße und Genialität, wie es auch die anderen Titel der Blauen Bücher feiern – von der „Deutschen Plastik des Mittelalters“ bis zum „Deutschen Rokoko“. Wahrscheinlich hat gerade diese Kontextualisierung den Büchern Müller-Wulckows bei der (bildungs-)bürgerlichen Zielgruppe Anklang verschafft. So wurde schließlich auch das Neue Bauen als Teil eines gewandelten „Lebensgefühls“ der großen deutschen Nation und des „Ausdrucksbedürfnisses der Zeit“ salonfähig, auch wenn die meisten der damit geadelten Avantgarde-Architekten auf diese Eingemeindung gepfiffen haben dürften.

■ Bis 10. Juni, Bauhaus-Archiv, Berlin