Unschuldig sind die Bilder nie

RETROSPEKTIVE „Formen des Erzählens“: der Brite Victor Burgin und seine raffinierten Foto-Reinszenierungen in einer Ausstellung im Museum für Gegenwartskunst Siegen

VON MAIK SCHLÜTER

Die Fotografie ist keine universale Sprache. Ihre Rezeption hängt mit dem Kontext ihres Erscheinens und dem Wissen der Betrachter zusammen. Politik und Psychologie der Bilder sind einer ständigen Deutung und Instrumentalisierung unterworfen. „Wenn man schaut, gibt es immer etwas, das man nicht sehen kann, nicht weil es als fehlend wahrgenommen wird, sondern weil es nicht zum Sichtbaren gehört.“

Damit beschreibt der britische Künstler Victor Burgin (geboren 1941) das gespannte Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit. Bildinhalte werden einer offiziellen Logik unterworfen und sind gleichermaßen das Produkt einer individuellen Lesart. Unschuldig sind Bilder nie. Die semiotische Analyse des fotografischen Bildes, die Kombination mit Text und das Ausloten seiner narrativen Potenziale sind zentral im Werk von Victor Burgin.

Seine frühen Arbeiten aus den sechziger Jahren sind der Konzeptkunst verpflichtet: Kunst sollte in erster Linie das Denken stimulieren, einen kritischen Bildbegriff befördern und die Institution Museum als Ort einer saturierten Repräsentation entlarven. Dass die institutionelle Kritik nicht dazu führte, ausgesperrt zu werden, belegt die aktuelle Retrospektive im Museum für Gegenwartskunst in Siegen. Die von Eva Schmidt kuratierte Schau trägt den klugen Titel „Formen des Erzählens“ und benennt die Vielgestaltigkeit bildnerischer Rhetorik, die bei Victor Burgin immer auch eine dezidierte Auseinandersetzung mit Texten beinhaltet.

„Performative/Narrative“ (1971) bringt dieses Vorgehen auf den Punkt: Ein leerer Schreibtisch, ein leeres Blatt Papier und ein Bürostuhl werden von Burgin von leicht erhöhtem Standpunkt aus fotografiert. Auf verschiedenen Bildern gibt es lediglich graduell verschiedene Situationen des Sets. Kurze Textsequenzen sprechen von den im Bild abwesenden Protagonisten: Sekretärin und Chef. Die Texte beschreiben alltägliche Handlungen und lassen Raum für Spekulationen. Den Bildern und Erzählfragmenten sind Beschreibungen zugeordnet, die den Betrachtern zeigen, wie sie durch Zuschreibungen eine spezifische Geschichte konstruieren.

Das Prinzip der Semiotik auf die Fotografie anzuwenden stammt vom französischen Theoretiker Roland Barthes, der bereits 1957 Zeitungsbilder strukturell analysierte und auf spezifische Konnotationen verwies, die über das Gezeigte hinausgehen. Das Verfahren wird von Victor Burgin übernommen und weiterentwickelt.

Psychoanalyse und marxistische Theorie bilden ebenfalls wesentliche theoretische Bausteine für die Kunst von Burgin. In „Office at Night“ (1985–86) wendet er alle drei Denkmodelle an und schafft eine Arbeit, die auch 30 Jahre später noch überzeugt. Ausgangspunkt ist ein Bild des amerikanischen Malers Edward Hopper gleichen Titels (1940). Hoppers Bild lebt von der Intimität einer nächtlichen Szene in einem anonymen Büro. Die Frau ist das Objekt einer männlichen Fantasie, passiv und in der Rolle einer Angestellten. Ihre sexuelle Präsenz ist unübersehbar.

Aussagen verdoppeln

Burgin reinszeniert einen Teil des Bildes und lässt die Frau zum selbstbewussten Subjekt werden. Sie hat jetzt ein Eigenleben, sitzt abwartend auf dem Bürostuhl, telefoniert oder blickt zu einem imaginären Gegenüber. Die Fotografien sind kombiniert mit Piktogrammen, die wie eine zweite visuelle Sprachebene die Aussagen verdoppeln. Burgin zeigt, wie repressiv und sexistisch auch kanonisierte Bilder der Kunstgeschichte sind und wie Sprach- und Zeichencodes unsere Vorstellungen und Blicke lenken.

Victor Burgin ist bei all den Verweisen nie didaktisch. Dass seine Kunst hohe intellektuelle Hürden aufbaut, verneint er deutlich: „Man kommt ganz einfach in meine Arbeiten hinein, aber herauszukommen ist wesentlich schwerer. Theorien sind wichtig, jeder von uns folgt einer Theorie, die meisten wissen nur nichts davon.“ Mit „Voyage to Italy“ (2006) überzeugt er auch mit einer aktuelleren Arbeit. Ausgehend von einer Aufnahme aus dem Jahr 1864, die die Ruinenreste der Basilika von Pompeji zeigt, entwickelt Burgin ein Geflecht aus Kulturgeschichte, Archäologie, Mythologie, Psychoanalyse und Filmzitat (Basilika I/II, 2006).

Auf der historischen Fotografie ist eine Frauengestalt zu sehen. Obwohl zentral im Bild, gibt es keinen Hinweis auf die Person. Abermals ist die Frau auf einem Bild ein namenloses Objekt. Victor Burgin aber holt sie in die Erzählung zurück, indem er den Roman „Gradiva“ (1903) von Wilhelm Jensen zitiert. In diesem Roman wird die Geschichte eines Archäologen geschildert, der einer selbst geschaffenen pseudo- mythologischen Figur namens Gradiva verfällt. Eine Liebe, die nur als Imagination gelingen kann (Gradiva, 1982).

Titelgebend für die gesamte Installation ist der gleichnamige Film (1953) von Roberto Rossellini, der die Entfremdung eines Paares schildert. Die italienische Reise findet bei Burgin ein ungewöhnliches Ende: Über die Trümmer der Kultur legt sich die analytische Erzählperspektive und offenbart eine alternative Geschichtsschreibung. Dass Pompeji unter Lava verschüttet und konserviert war, lässt ein einfaches Sinnbild psychoanalytischer Aufdeckung vermuten. Burgin aber geht es um die existenzielle Einsamkeit inmitten von Kultur und Geschichte.

■ Bis 15. Juni, Museum für Gegenwartskunst Siegen