Gerne ewig zuhören

ABSCHLUSS MAERZMUSIK Eine chinesische Mundorgel ist der Wanderer in den Klanglandschaften von Unsuk Chin, die mit zwei weiteren Komponisten im Konzerthaus aufgeführt wurde

Ist der Knoten geplatzt, setzt die Sheng ihre Wanderung gelassen fort

VON KATHARINA GRANZIN

Schade eigentlich um Friedrich Goldmanns Konzertstück für Orchester, das der Berliner Komponist um 2005/2006 schrieb. Drei Jahre später starb er, und erst am vergangenen Freitag wurde das Orchesterstück vom Konzerthausorchester unter Peter Rundel posthum uraufgeführt. Schade ist das deswegen, weil man das sicherlich sauber und abwechslungsreich gebaute 11-Minuten-Werk am Ende des Abends vollständig vergessen hatte – vergessen musste, so intensiv waren die musikalischen Erlebnisse, die danach kamen.

Getreu dem „Nach Berlin!“-Motto der diesjährigen MaerzMusik waren auch die anderen beiden KomponistInnen des Abends Berliner – wenngleich Unsuk Chin ursprünglich aus Südkorea und Michael Wertmüller aus der Schweiz stammt.

Unsuk Chin gehört zu den Stars der deutschen Tonsetzerszene. Mit ihrem Konzert für Sheng und Orchester aus dem Jahr 2009 hat die Komponistin die traditionelle chinesische Mundorgel Sheng als Soloinstrument mitten in das europäische Symphonieorchester gesetzt. Das Instrument, das der Solist Wu Wei hereinträgt, sieht gar wundersam aus, in etwa so, als habe man die Pfeifen einer Zwergenorgel zu einem etwas unhandlichen Bündel zusammengebunden und mit einem im rechten Winkel angebrachten dicken Rohr als Mundstück versehen. Diesem außergewöhnlichen Instrument weist die Komponistin dem Orchester gegenüber eine noch stärker exponierte Rolle zu, als das üblicherweise bei Soloinstrumenten der Fall ist.

Doch auch die Rolle des Orchesters ist nicht nebenrangig. Die fein und vielfältig geformten Orchesterklänge schmiegen sich gleichsam um das Soloinstrument, bilden Klanglandschaften, liebliche und schroffe, von der Mundorgel durchwandert. Wäre man ernsthaft synästhetisch veranlagt, sähe man beim Hören von Unsuk Chins Musik wahrscheinlich grandiose Farbstrukturen. Die Sheng wiederum kann klingen wie eine Orgel – man stelle sich eine mundgeblasene Hammond-Orgel vor –, kennt jedoch auch Register, in denen sie wie ein einsam klagendes Horn anmutet oder ein fernes Saxofon.

Immer wieder kommt es dazu, dass der quasi impressionistische Klanggestus sich steigert zu einem immer spannungsreicheren Zusammenspiel von Soloinstrument und Orchester, bis die Spannung sich löst in kraftvoll rhythmisierten Intermezzi. Ist der Knoten geplatzt, setzt die Sheng ihre Wanderung gelassen fort. Das könnte gut und gerne ewig dauern, ist aber nach 19 Minuten schon zu Ende. Der Virtuose Wu Wei spendiert ein Sheng-Solo als Zugabe.

Wer in der Pause im Programmheft den Text las, den Michael Wertmüller über sein Stück „Zeitkugel“ verfasst hat, konnte in der zweiten Konzerthälfte spekulieren, dass die schriftlichen Verlautbarungen von Komponisten möglicherweise dazu dienen, ihre wahren Absichten zu verschleiern. Dasselbe gilt für Werktitel. „Zeitkugel“ klingt ungefähr so harmlos wie „Tulpenzwiebel“ und bereitet nicht im Geringsten auf die musikalische Schlacht vor, die sich dahinter verbirgt.

Wer schreibt: „Hier wird also die horizontale Bewegung gleichsam zu einer ihr nicht mehr zuzuordnenden Dauer eingefroren: Das Klangerlebnis als zeitliche Blase, als punktuelle Dauer innerhalb der gleichzeitig andauernden musikalischen Bewegung“, der erklärt damit gleichsam, er habe den schwarzen Schimmel erfunden.

Militant kraftvoller Gestus

Das ist natürlich beim Hören schwierig nachzuvollziehen. Und, mit Verlaub, wenn an diesem Konzertabend irgendwann so etwas wie eine zeitliche Blase in der Musik zu spüren gewesen ist, dann hatte die sich aufgetan während Unsuk Chins Sheng-Konzert. Wertmüllers Musik dagegen ist von einem geradezu militant kraftvollen Gestus, der rein motivisch gesehen immer wieder die Dauer punktuell einfrieren mag, sich aber gleichzeitig so stürmisch gebärdet, dass allein die Dramatik der Performance das Stück vorantreibt. Die durchschnittliche Lautstärke des 45-Minuten-Werks liegt schätzungsweise bei drei fff, fortissimo possible. Die Finger des Pianisten und Organisten Dominik Blum, der seinen abstrus virtuosen Part zum größten Teil auswendig absolviert, verwirbeln optisch immer wieder zu einer hellen Fläche, so sehr rast das Tempo.

Phasenweise stehen fünf Dirigenten auf dem Podium, jeder über Kopfhörer mit einem Midi-Metronom verbunden und in einem anderen Taktmaß und Tempo dirigierend. Das ist nicht kugelig; das ist Krieg. Ein Krieg gegen die Zeit! Am Schluss verabschiedet sich der Komponist mit revolutionär gereckter Faust ins überwiegend grauköpfige Publikum.