Eine Frau aus Pixeln und Zelluloid

THEATER Schillernder Mythos: Milan Peschel inszeniert „Das Mädchen Rosemarie“ in Hannover

Um sich zu verkaufen, musste der Film provozieren, erklärt Peschel, der jetzt Regisseur Thiele spielt

Mit Milan Peschels Bühnenversion von „Das Mädchen Rosemarie“ verhält es sich wie mit einer dieser Verfilmungen im Modus des unzuverlässigen Erzählens, die Ende der neunziger Jahre die Kinos eroberten. Der Clou kommt zum Schluss. Wer den Abend sehen will, der sollte womöglich nicht weiterlesen.

Eine riesige Leinwand im Cinemascopeformat ziert die Rückseite der drehbaren Bühne, darüber verspricht eine rosa Leuchtschrift 24 Stunden Programm im Erotik-Kino. Auf der Vorderseite ist das Foyer des Hotels „Frankfurter Hof“ detailverliebt nachgebaut, mit Nierentisch und Drehtür. Und einem Portier, der alles sieht, was in dieser Welt passiert – und der wegen eines Krankheitsfalls bei der Premiere von Regisseur Milan Peschel persönlich gespielt wird.

Mit roter Uniform spaziert Peschel durch die von ihm erschaffene Welt und verfolgt, was er da angerichtet hat. Das Set der Wohnung des Fräulein Rosemarie ist für die Zuschauer nicht einsehbar. Mit Plüschbett und rundem Spiegel residiert Juliane Fisch als Rosemarie auf der Hinterbühne. Als Filmbilder erleben wir, was hier passiert. Wie sie von ihrem Freier, Henning Hartmann als smarter Business-Mann, in der eingeschäumten Badewanne von hinten genommen wird. In ihrem Gesicht kein Ausdruck, nichts, außer vielleicht ein kühles Nachrechnen des Kontostands.

Rosemarie ist bei Peschel kein Opfer, sondern eine brillante Managerin ihrer selbst in einer durch und durch korrupten Welt. Zur Musik aus David Lynchs doppelbödigem Neo-Noir-Thriller „Mulholland Drive“ treffen sich die Größen der Nachkriegsindustrie im Blue Room, einem mit blauen Vorhängen ausgehängten Hinterzimmer, in dem sie getarnt als Isoliermattenkartell die atomare Wiederbewaffnung der Bundesrepublik planen. Die Abhörtechnik funktioniert. Wenn die Kamera Bilder dieser Treffen nach draußen überträgt, zeigt sie, wie der Wirtschaftspräsident eine Sonntagsrede übt, während ihn Rosemarie oral befriedigt. Industriebosse als triebgesteuerte Barbaren.

Doch was über weite Teile wie eine extrem klischeebeladene Abrechnung mit dem Westdeutschland der Nachkriegszeit daherkommt, ist alles nicht echt. Der große Bruch kommt nach der Pause. Als Milan Peschel seine Schauspielerin des Mädchens Rosemarie plötzlich anfaucht: „So haben wir das nicht geprobt, Nadja.“ Nadja Tiller – sie spielte das Mädchen Rosemarie im gleichnamigen Film 1958 –, nicht Juliane Fisch. Und das ganze Treiben auf der Bühne zerfällt – in ein Filmset. Das Filmset ebenjenes tendenziösen Films von Rolf Thiele, dem schon damals eine klischeehafte und einseitige Darstellung westdeutscher Verhältnisse vorgeworfen wurde.

Über fünfzig Jahre später sind wir da schon weiter. Um erfolgreich zu sein und sich zu verkaufen, musste der Film provozieren, erklärt Peschel, der jetzt den Regisseur Thiele spielt, bevor die Ebenen vollends verschwimmen. Die Bilder von Juliane Fisch als Thiele-Schauspielerin Nadja Tiller als Rosemarie Nitribitt erstrahlen auf den Leinwänden und irgendwo rückt eine Theater-Crew der Gegenwart Rosemarie mit der Kamera zu Leibe.

Die will jetzt Präsidentin werden, „ich wäre nicht die erste Hure, die einen Bundespräsidenten heiratet“, ruft sie noch, bevor sie vor allen Augen erwürgt wird. Mit Blick in die Kamera. Ihr Mörder ist der Kameramann, sind wir alle, die Rosemaries Schicksal seit Jahrzehnten in den unterschiedlichsten Medien lustvoll verfolgen.

Peschel zeigt das Mädchen Rosemarie als schillernden Medienmythos, der immer wieder neu instrumentalisiert wird. Dessen Rezipienten das wahre Schicksal der Nitribitt inzwischen völlig egal ist. Zum Schluss gucken alle auf die Leinwand, auf der die Schauspielerin Juliane Fisch auch nach ihrem Bühnentod für immer glänzt. Und applaudieren einer Frau, die nur noch aus Zelluloid und Pixeln besteht. ALEXANDER KOHLMANN