Adam, Eva und künstliche Befruchtung

TODSÜNDEN Kontroverse über Gott: Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff und der Historiker Aviad Kleinberg diskutierten bei den Deutsch-Israelischen Literaturtagen über religiöse Traditionen und Unterschiede im Glauben

Als Lewitscharoff auf die künstliche Befruchtung zu sprechen kam, sagte sie, die Fortschritte der Reproduktionsmedizin seien bedeutender als die Erfindung der Dampflokomotive

VON TIM CASPAR BOEHME

„Ich habe Angst vor der Religion, aber etwas muss an ihre Stelle treten.“ Mit dieser fast prophetischen Bemerkung spitzte der israelische Historiker Aviad Kleinberg kurz vor dem Ende seiner Diskussion mit der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff noch einmal die Fragestellungen ihres Gesprächs zu: Was kommt nach der Religion? Welche Erzählung, welche Art von Bekenntnis benötigt eine Gesellschaft, um in ihrem Zusammenhalt auch auf den Ernstfall vorbereitet zu sein? Sind Gut und Böse als Orientierungsmarken für das eigene Handeln hinfällig geworden, oder sind Werte nötig, die, so Kleinberg, „nicht verhandelbar“ sind?

Am zweiten Abend der vom Goethe-Institut und der Heinrich-Böll-Stiftung veranstalteten Deutsch-Israelischen Literaturtage ging es am Sonntag im Grünen Salon um die Aktualität von Glaubensfragen und die Unterschiede zwischen jüdischer und christlicher Tradition. Wobei sich nicht zwei vehemente Vertreter der beiden Religionen gegenübersaßen, sondern ein säkularer Jude, der sich „von der religiösen Tradition verabschiedet“ hat, und eine zwar bekennende Protestantin, die sich aber nicht als „Glaubensnaive“ missverstanden wissen wollte, sondern sich vielmehr auf „schütterem, wackeligem Glaubensgrund“ unterwegs sah. Kleinberg kritisierte den apodiktischen und ahistorischen Gestus der Religionen. „Es gibt keine Sünde ohne Kontext“, so ein Kernsatz aus Kleinbergs Buch „Die sieben Todsünden“, in dem er den Allgemeingültigkeitsanspruch von Moral relativierte.

Zur Veranschaulichung schilderte er einen Akt sinnloser Zerstörung aus seiner Kindheit. Von dieser Form des „Bösen ohne persönlichen Nutzen“ leitete der Moderator, der Böll-Stiftungs-Vorstand Ralf Fücks, zum Sündenfall Adam und Evas über. Welche Rolle dieser für das Streben nach Erkenntnis spiele, wollte er von seinen Gesprächspartnern erfahren.

Deutungen der Ursünde

Kleinberg unterstrich zunächst die unterschiedlichen Deutungen der Ursünde in der jüdischen und in der christlichen Tradition: Während die christliche Lesart die Geschichte fast als tragisches Ereignis interpretiere, herrsche im Judentum die Auffassung vor, dass die Situation der Juden nach dem Sündenfall besser sei als davor, da man nun die Thora habe, deren Gebote man befolgen müsse.

Während man den Sündenfall im Christentum als Aufstand gegen Gottes Tyrannei deute, habe Gott aus jüdischer Sicht mit seinem auserwählten Volk einen Vertrag ausgehandelt. Wenn Gott, wie in der Diaspora, diesen Vertrag nicht einhalte, müsse er sogar dafür bestraft werden. Lewitscharoff ergänzte, dass der Vertrag mit Gott tatsächlich der größte Unterschied zwischen Judentum und Christentum sei. Im Christentum werde das Verhältnis der Menschen zu Gott stattdessen allein durch die Gnade bestimmt.

Klare Differenzen

In der Frage, wie man mit der eigenen Tradition im Einzelnen umgehen solle, zeigten sich dann klare Differenzen. So beharrte Lewitscharoff darauf, dass man immer in eine bestimmte Glaubenstradition hineingeboren werde und dieser irgendwie verhaftet sei. Ein Protestant, der sich plötzlich zum Buddhismus bekehre, erscheine ihr „lächerlich“. Kleinberg lehnte dieses Traditionsverständnis als hierarchisch ab: „Warum ist es ein Vergehen, wenn man die Tradition verlässt?“ Man könne schließlich etwas anderes wählen, wenn es einen anspreche.

Lewitscharoff lenkte ein, dass sie in ihrer „Polemik“ vor allem einige ihrer Zeitgenossen in Deutschland im Sinn gehabt habe, die versucht hätten, ihre „scheußliche Vergangenheit“ hinter sich zu lassen, „und plötzlich Buddhisten wurden“. In ihren Augen sei das eine Gesellschaftsflucht und eine Flucht vor der deutschen Vergangenheit.

Lewitscharoffs heftig kritisierte Dresdener Rede kam nur am Rande zur Sprache. Fücks hatte eingangs auf die starke Ablehnung hingewiesen, die Lewitscharoffs Kommentare zu Themen wie künstliche Befruchtung hervorgerufen hatten – auch bei ihm. Sie habe damit aber Themen angesprochen, um die es in Glaubensfragen gehe – den Gegensatz von Schicksalsergebenheit und Selbstermächtigung etwa. Als Lewitscharoff in der Debatte auf die künstliche Befruchtung zu sprechen kam, beschränkte sie sich auf die Einschätzung, dass die Fortschritte der Reproduktionsmedizin einen größeren Schritt für die Menschheit bedeuteten als die Erfindung der Dampflokomotive, unabhängig davon, welche Haltung man zu dieser Entwicklung einnehme. Kleinberg merkte lediglich an, in der jüdischen Religion sei die Frage, ob eine Schwangerschaft nur durch das Eindringen des Penis in die Scheide zustande kommen dürfe, kein Problem. Aus rabbinischer Sicht seien künstliche Befruchtung und In-vitro-Fertilisation ebenfalls legitime Methoden.