Im Theater kostet Ungehorsam wenig

VOLKSTHEATER MÜNCHEN Beim Münchner Regiefestival „Radikal jung“ konfrontieren Erlebnisagenten aus Israel und Deutschland den Besucher mit sich selbst. Wie fühlt es sich an, ein drei Millionen Euro teures Penthouse als potenzieller Käufer zu besichtigen?

Tritt man einen Schritt von der Rolle zurück, geraten die realen Menschen in den Blick, die in diesem ehemaligen Sozialbau entmietet werden mussten

VON SABINE LEUCHT

Wir sind zu zehnt. Und wie als Kontrastprogramm zu dem, was gleich kommt, werden wir durch die Schmuddelecken des Münchner Volkstheaters geführt: An Werkstätten vorbei in den staubigen Raum, in dem wir unsere neuen Identitäten anprobieren: Einen anderen Namen, hohe, wenn auch billige Lackschuhe – und die Sache mit dem Geld: Woher hast du es? Warum willst du es in eine Luxusimmobilie stecken? Die meisten von uns stellen sich solche Fragen selten. Selbst in München, wo es laut Mirko Winkel deutschlandweit die meisten Millionäre gibt, aber immer noch wenige im Vergleich zu London oder Hongkong. Mit seiner israelischen Kollegin Anat Eisenberg wurde der Bildende Künstler aus Berlin zum Münchner Regienachwuchsfestival „Radikal jung“ geladen, obwohl das, was die beiden anbieten, ohne Schauspieler und fixierten Text auskommt.

Eisenberg und Winkel sehen sich als Erlebnisagenten, die mit „Life & Strive“ für den Preis einer Theaterkarte ein Fenster in die Welt der Superreichen schneiden. Und der Blick da hinein ist zumindest in der Münchner Variante weit weniger interessant als das, was dabei mit einem selbst passiert.

Vom Fleck weg hat man das Gefühl, in ein Klischee zu schlüpfen und ihm zugleich aufzusitzen: Ist es okay, als Superreicher zu lächeln? Wird mich der Makler fragen, wie viel Geld ich habe? Und würde ich ihm in dem Fall nicht sagen müssen, dass ihn das einen Scheißdreck angeht? Und wenn der vermeintliche Makler echt ist, aber ins Spiel eingeweiht: Wer spielt dann wem etwas vor? Ganz schön verzwickt!

Die Fiktion will, dass wir als Teilnehmer einer Luxusshoppingtour zu einem Haus fahren, unter dessen Dach gerade eine 220 Quadratmeter große Penthousewohnung entsteht. Und dann sind wir drin. Kuschelt man sich in seine Rolle, stört einen der Blick auf die unaufgeräumten Nachbarbalkone von der Dachterrasse aus und sogar, dass sich die versprochenen Berge hinter der Münchner Skyline nicht blicken lassen. Tritt man einen Schritt von der Rolle zurück, geraten sofort die realen Menschen in den Blick, die in diesem ehemaligen Sozialbau entmietet werden mussten, damit der Hausbesitzer sein Luxussanierungsprogramm umsetzen konnte, und es wird einem sonnenklar, dass die „Verschönerung“ des Umgebungsbilds nur eine Frage der Zeit ist: Gentrifizierung revisited from the other side.

Dabei sieht der Münchner Wohntraum in diesem Fall auch noch erstaunlich banal aus und ist „nur“ drei Millionen Euro schwer statt der 25 Millionen Dollar, die ein Appartement in der Gated Community des Istanbuler Edelhochhauses „Sapphire“ kostet, wo „Life & Strive“ Premiere hatte. Und entscheiden, wie man darin wohnen will, muss man auch noch selbst. Und das bringt doch bei manch einem die Fantasie in Bewegung, sodass man sich weniger als Voyeur denn als potenziellen Akteur der Verdrängung auf dem Wohnungsmarkts erfährt.

Das ist sehr unbequem. Und unbequem geht es weiter bei „Radikal jung“, das im zehnten Jahr seines Bestehens internationaler und performativer denn je unterwegs ist und den Besucher auch bei „The Lottery“ des israelischen Duos Saar Székely und Keren Sheffi nicht Zuschauer sein lässt.

Zwanzig Leute unterstehen in einem leeren Büroraum der Befehlsgewalt eines von einem Zufallsgenerator gesteuerten Computers. Er ist die oberste Macht, hinter der sich der Einzelne mit seinen Handlungen verstecken kann, wenn er will. Alles ist möglich. Es könnte toll, gefährlich oder zumindest peinlich werden. „The Lottery“ ist eine Art Partyspiel, das Székely und Sheffi nicht beobachten und nicht aufzeichnen, sondern einfach nur den Spielern zur Verfügung stellen. Und als solches funktioniert es ganz gut.

Das Warten auf die nächste Anweisung macht aus zwanzig Fremden eine Gemeinschaft auf Zeit, die sich sehr bald darüber verständigt, welche Befehle sie warum ausführt und warum nicht. Die meisten davon ergehen an Einzelne und sind so banal wie „Mache etwas ganz Neues mit deinem Haar“. Mal soll sich die ganze Gruppe hinlegen, mal eine Teilgruppe vorübergehend die Befehlsgewalt übernehmen.

Einige Anweisungen, die zum Spitzeln oder Gerüchtestreuen anstiften, reicht man an das eigene Gewissen als Zwischeninstanz weiter, aber nur ganz wenige überschreiten wirklich eine Grenze. Und da es keine äußere Kontrollinstanz und wenig sozialen Druck gibt, kostet auch der Ungehorsam wenig.

Von Székely, dem linken Aktivisten, der es immerhin geschafft hat, in der erfolgreichsten „Big Brother“-Staffel Israels die Endrunde zu erreichen, weil er das System zuvor genauestens analysiert hatte, hätte man mehr erwartet als drei teils fade, teils spaßige Partystunden.

■ „Radikal jung“, das Festival junger Regisseure, läuft noch bis zum 13. April in München