„Eine Lektion in Sachen Bescheidenheit“

MANÖVERKRITIK Jedes Festival wirbt gern mit Prominenz – und vergibt damit Chancen für Künstler und Publikum, Neugier auf Neues zu wecken, kritisiert Frie Leysen, Kuratorin für Schauspiel der am Freitag beginnenden Wiener Festwochen

■ ist 63 Jahre alt, wurde in Belgien geboren, studierte Kunstgeschichte. In den 80er Jahren wurde sie zu einer wichtigen Impulsgeberin für die „Bühnenkünste“, wie sie sagt. 1980 bis 1991 baute sie in Antwerpen das internationale Kunstencentrum de Singel auf. Das 1992 in Brüssel von ihr gegründete multidisziplinäre Kunstenfestivaldesarts entwickelte sie über zehn Jahre zu einem der einflussreichsten internationalen Festivals Europas. 2007 kuratierte sie Meeting Points 5, ein Festival in neun arabischen Städten von Damaskus bis Rabat. „Theater der Welt“ gestaltete sie 2010 als Programmdirektorin und leitete 2012 in Berlin das Festival für Theater und performative Künste, „Foreign Affairs“. In Wien bleibt sie nun nur eine Spielzeit.

INTERVIEW UWE MATTHEISS

Seit den 1980er Jahren setzte Frie Leysen zunächst von Belgien aus wichtige Impulse für neue Formen und internationale Perspektiven im europäischen Theater. Für die Festwochen Wien, die dieses Jahr am 9. Mai beginnen, war sie ursprünglich für drei Spielzeiten engagiert; doch nun scheidet sie nach der ersten Saison aus, wie es heißt, im gegenseitigen Einvernehmen. „Schimpfen und Bleiben“ sei das Modell Wiener Konfliktbearbeitungen, sie ziehe es vor, zu gehen.

taz: Frau Leysen, in der Beschreibung Ihres Programms betonen Sie immer wieder, Festivals müssten die Künstler wieder in den Mittelpunkt rücken. Wo stehen die sonst im Betrieb?

Frie Leysen: In vielen Festivals, aber auch in Häusern illustrieren Künstler mehr und mehr, wie klug Intendanten, Schauspieldirektoren oder Kuratoren sind. Ich möchte das Festival als Freiraum verteidigen, in dem Künstler ohne ökonomischen, politischen und ästhetischen Druck arbeiten können. Theater und Festivals wurden ja ursprünglich einmal gegründet, um den Künstlern zu dienen. Mittlerweile sind die needs of the artist sekundär. Sie müssen viel zu sehr den Regeln des institutionalisierten Betriebs folgen. Dieser steht unter hohem Rechtfertigungsdruck, was zählt sind die Auslastungszahlen. Es ist enttäuschend, dass sich fast alle diesem Druck beugen.

Sie widerstehen?

Ich weiß nicht, ob mir das immer gelingt, aber meine Ambition ist es, diesen Freiraum gegen den Druck von außen zu verteidigen, die Dringlichkeit hinter einer künstlerischen Arbeit zu verstehen und für jedes Projekt die bestmögliche Produktionsweise zu finden. Jeder Künstler arbeitet anders, hat andere Notwendigkeiten. Es gibt Leute, die erarbeiten eine Aufführung in vier Wochen, andere brauchen sechs Monate.

Die Wiener Festwochen haben dafür die ökonomischen Ressourcen.

Die Festwochen sind eines der reichsten Festivals Europas. Mit diesem Geld kommt auch eine Verantwortung. Wir präsentieren die etablierten, großen Künstler von heute, aber auch eine noch unbekannte und junge Generation von internationalen Künstlern, die noch nicht etabliert ist.

Sind Festivals dieser Art überhaupt noch zeitgemäß? In Koproduktionen untereinander, aber auch mit wichtigen Theatern und Opernhäusern nähern sich Programme immer mehr an. Wozu ein Festival, wenn die angesagten Arbeiten nach und nach überall zu sehen sind?

Kaum ein Festival kann große Projekte heute noch allein realisieren. Außerdem gibt es für mich so etwas wie die Karriere eines Kunstwerks. Zusätzliche Aufführungen geben einer Arbeit die Möglichkeit, reifer, besser zu werden und auch ein größeres Publikum zu erreichen. Ein Festival ist mehr als die Summe seiner Teile, schafft seinen eigenen lokalen Kontext, Werke geben einander ein Echo. Wenn sich eine Upper Class von Festivals und Theatern nur untereinander koproduziert und präsentiert, wäre das wirklich inzestuös. Festivals wie Theater müssen sich viel mehr für unabhängige, internationale Künstler öffnen und ihnen ermöglichen neue Arbeiten zu realisieren.

Sie interessieren sich besonders für die Entwicklungen im Theater jenseits von Europa. Aber gibt es eine kulturelle Praxis die eurozentrischer ist als Theater – seit 2.500 Jahren?

Es gibt auch Theaterformen, die nicht in Europa entstanden sind wie Bunraku, No, Griot, Kathakali, Peking-Oper, darum sage ich lieber „Bühnenkünste“, „les arts de la scène“.

Wie finden diese Formen in der Kunst zu kritischen Begriffen ihrer selbst, zu ihrer eigenen Aufklärung?

Bislang haben Theatermacher in Afrika und Asien sich eher an europäischen Sichtweisen, Kriterien und Normen orientiert. Im Augenblick ist es eher so, dass sie vermehrt auf sich schauen und ihre eigenen Kriterien entwickeln. Was ist unsere Kunst, und was sind ihre Wurzeln, wie verlief unsere Geschichte, und was könnten wir verlieren, wenn wir nur die westliche Kultur kopieren? Wie sehen Künstler in Kapstadt, in Bangkok ihre Gesellschaft heute, welche Ausdrucksformen finden sie dafür? Es geht um einen Wechsel der Perspektive. Sie und wir in Europa haben eine unterschiedliche Sicht auf ein und dieselbe Welt.

Aber kann es im Theater gelingen, den Standpunkt kultureller Vorherrschaft wirklich zu verlassen? Wir treffen ja dort immer auf Partner, die schon kolonisiert sind, auf europäisch gebildete Eliten.

Und wir sind es, die das Geld haben. Wir sind noch immer die Kolonialisten.

Lässt sich das durchbrechen?

Nein, strukturell nicht, vielleicht auf einer persönlichen Ebene. Es geht um Respekt. Ich reise viel und erkenne mehr und mehr, wie wenig ich wirklich verstehe. Das ist eine Lektion in Sachen Bescheidenheit. Man sieht Dinge, die offenkundig eine Qualität haben, aber man versteht sie nicht. Das führt an die Grenzen des gewohnten Denkens, der eigenen kulturellen Voraussetzungen.

Sie kommen aus einem Land, das Stadt- und Staatstheater wie wir sie kennen, vor Jahrzehnten abgeschafft hat. Trotzdem kommen wichtige Impulse für die darstellende Kunst in den vergangenen drei Jahrzehnten aus dem flämischen Umfeld. An vielen dieser Arbeiten waren sie von Antwerpen und Brüssel aus beteiligt. Was ist damals in den 80er Jahren in Flandern eigentlich passiert?

Flandern war davor eine Wüste. Es gab nichts außer schlechtem, old fashioned Repertoiretheater. Aber plötzlich tauchten junge Leute auf wie Anne Teresa De Keersmaeker, Jan Fabre, Alain Platel, Ivo van Hove. Zur gleichen Zeit wurden neue Orte für die Kunst geschaffen. Gerard Mortier war schon an der Brüssler Oper La Monnaie, ich habe etwas später de Singel gegründet. Es gab das Kaaitheater-Festival in Brüssel, später das Vooruit in Gent. Entscheidend aber war, dass diese neue Generation nicht als Alternativkünstler in der Garage spielen musste. Wir haben sie an die Häuser eingeladen. Die neuen Künstler wurden nicht marginalisiert, sondern auch vom Publikum früh anerkannt.

Fördermittel wurden anders verteilt und neue geschaffen.

Es gab vorher überhaupt keine Förderungen für freie Künstler. Glücklicherweise gab es zwei Kultusminister, die die Dimension dieses künstlerischen Umbruchs verstanden haben.

Lassen sich diese Erfahrungen auf den deutschsprachigen Raum übertragen?

Besonders in Berlin habe ich eine Kluft wahrgenommen, die zwischen den etablierten Häusern und allen anderen herrscht. Freies Theater ist noch viel zu sehr im alternativen Kontext verhaftet. Das meine ich nicht nur ökonomisch, der deutschsprachige Raum ist international zu wenig vernetzt. Das eine oder andere große Haus könnte einen anderen gesellschaftlichen Auftrag bekommen, sich für eine andere Arbeitsweise, für andere Stile und Kunstformen, für andere Inhalte öffnen. Ich bin schon gespannt, was Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen machen wird.

Was würden sie deutschsprachigen Theatern und Kulturpolitikern raten?

Ich weiß nicht, ob ich raten soll. Aber es herrscht hier wenig Flexibilität, um über neue Formen nachzudenken. Die Gesellschaft ändert sich rasant, aber im Theater soll alles bleiben, wie es war? Als ich in Essen und Mülheim das Festival „Theater der Welt“ gemacht habe, war die Krise überall zu spüren. Das Theater in Wuppertal drohte geschlossen zu werden. Ich habe mich gefragt, warum denkt man nicht darüber nach, mit diesen Apparaten etwas anderes zu machen, etwas Komplementäres zum Stadttheater, etwas wie das Théâtre de la Ville in Paris oder das Barbican in London. Was nützt ein gut organisierter Theaterapparat, wenn darin kein Geld für die Kunst bleibt?

Das kostet Geld, das man irgendwo wegnehmen muss . . .

Nein, ich spreche davon, das Geld innerhalb der Häuser anders einzusetzen …

sie von Grund auf neu zu organisieren.

Vielleicht müssen einige der bisherigen Repertoiretheater eine andere Mission entwickeln. Eine Diversifizierung in den künstlerischen Profilen der Theater wäre wohl ohnehin wünschenswert. Dann könnte internationales Theater nicht nur bei Festivals stattfinden.