Was alles möglich wäre

MOUSONTURM FRANKFURT Ein Mann und eine Frau versuchen, noch einmal in eine Tonspur der Vergangenheit hineinzufinden. Ein Kammerspiel des iranischen Dramatikers Amir Reza Koohestani voller Traurigkeit

Das Paar spricht Farsi, dessen lyrisch weicher Singsang uns umfängt, während wir die deutsch-englischen Übertitel lesen

„Jede Liebe bildet in ihrem Rücken Utopie“, hat vor Jahren der Schriftsteller Botho Strauß geweissagt. Und weil das so ist, verlieren sich beim Auseinandergehen nicht nur die Liebsten, sondern schwindet mit jeder Trennung auch die Gegenwelt.

Vom Ende einer Geschichte erzählt in seinem neuen Stück auch der iranische Autor und Regisseur Amir Reza Koohestani. „Timeloss“ heißt es und platziert einen Mann und eine Frau auf der Bühne im Mousonturm Frankfurt, die sich nicht ansehen. Beide sitzen an einem kleinen Tisch, er hinten links, sie vorne rechts. Die Tischchen und Stühle sehen aus wie von Thomas Demand aus Papier und Pappe hergerichtet.

Auf dem Tisch des Mannes wartet eine Wasserflasche, auf dem der Frau ein Glas mit einer Flüssigkeit darin, die Tee sein könnte oder Saft. Er trägt sein schütter und grau gewordenes Haar zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden, während sie ihre pechschwarzen Haare mehr oder weniger unter einem leuchtend gelben Kopftuch verbirgt. Er zappelt schon einmal mit den Beinen, sie sitzt die meiste Zeit wie eine Statue da, raucht ab und an und blickt unter schweren Lidern hervor. Das Paar spricht Farsi, dessen lyrisch weicher Singsang uns umfängt, während wir die deutsch-englischen Übertitel lesen.

Beide Schauspieler schauen die meiste Zeit des Abends streng geradeaus. Frontaltheater. Dabei sind sie scheinbar an diesem Ort zusammengekommen, um einen einstmals, vor vielen Jahren aufgenommenen Film, ein abgefilmtes Theaterstück, neu zu synchronisieren.

Es handelt sich um das Erfolgsstück Koohestanis, „Dance on Glasses“, sein drittes Theaterstück, 2001 uraufgeführt. Es machte ihn auf Anhieb bekannt und tourte jahrelang von Festival zu Festival. Diesen grandiosen Erfolg konnte er bislang nicht mehr wiederholen.

In „Timeloss“, das nun im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm zum ersten Mal hierzulande zu erleben war, knüpft er aber zumindest inhaltlich daran an. Zu dem, was auf der Bühne zu sehen ist, laufen zuweilen Videosequenzen, die Szenen des alten Stückes zeigen. Ob es sich um Originalaufnahmen handelt, wird dabei ebenso wenig klar, wie man sicher sein kann, dass der Mann und die Frau auf dem Video dem Mann und der Frau auf der Bühne entsprechen.

Sie tun es nicht, wie der Programmzettel verrät, was aber egal ist, weil sie in keinem Falle mehr die sind, die sie einst waren. Dafür benutzt der 1978 in Shiras geborene Koohestani das schöne Bild von der Synchronisation der eigenen, früheren Stimme.

Seine beiden Schauspieler (Hassan Madjooni und Mahin Sadri) probieren nämlich immer wieder, sich selbst in jungen Jahren zu synchronisieren, was nicht gelingt, da sie nicht mehr in die Tonspur von damals hineinfinden, nicht in das Lebensgefühl, das Tempo, den Sound. Damals haben sie sich getrennt, heute wissen sie nicht mehr so genau, warum. Sicher ist, wenn der andere anders gewesen wäre, wären sie gern geblieben. Das ist eine der traurigen Gewissheiten, die an diesem Abend den Saal füllen.

Es ist eine alte Geschichte, doch Koohestani erzählt sie in seinem einstündigen Kammerspiel mit vielen Fallstricken neu und schert sich dabei nicht um Logik. Lieber spielt er mit Vagheiten, streut Andeutungen wie falsche Fährten und verunsichert den Zuschauer mit seiner labyrinthischen Erzählung. Dabei baut er sein Stück auf mehreren Ebenen der Wirklichkeit, nutzt Film, Theater, Off-Kommentar, Regieanweisung, Liebesbrief, Spiel und Dialog, um einen Eindruck zu geben von unserer paarweisen Vereinzelung.

Er muss damit leben, dass dieser und jener Zuschauer politische Botschaften in sein Stück hineingeheimnisst. Selbstverständlich ist das Private auch in Iran politisch, doch scheint das an diesem Abend zweitrangig. Da tut man besser daran, die pilzartig peripheren Gebilde, die der Dunstschleier aus Zigarettenrauch über der Bühne formt, zu verfolgen und sich auszumalen, was alles möglich wäre, wenn.

SHIRIN SOJITRAWALLA