Liebe auf den ersten Blick

WORKAHOLIC Anwältin, Restaurant-chefin und Autorin – die 45-jährige Kanadierin Kim Thúy kann auf einen vielseitigen Lebenslauf zurückblicken. Gerade ist ihr zweiter Roman erschienen, der vom Essen, von Beziehungen und der Erinnerung an Vietnam erzählt

VON KATHARINA GRANZIN

Sie hätte ebenso gut eine Karrierefrau bleiben können. Doch lieber setzt sie alles daran, es so aussehen zu lassen, als sei sie nie eine gewesen. „Stupid little girl“ sagt Kim Thúy gern, wenn sie über sich spricht, eine Frankokanadierin mit vietnamesischen Wurzeln, die perfekt Englisch spricht.

Eigentlich ist die zierliche Frau Juristin, spezialisiert auf Wirtschaftsrecht. Nach dem Studium arbeitete sie etliche Jahre in diesem Beruf, zuerst in Montreal, dann, Ende der neunziger Jahre, für vier Jahre in Vietnam. „Das war ein Projekt, mit dem der Aktienhandel in Vietnam etabliert werden sollte. Der eine meiner beiden Chefs war Präsident der Montrealer Börse gewesen, und mein anderer Chef war früher Finanzminister. Ich hatte keine Ahnung, worum es in dem Projekt ging. Aber ich wusste, allein dadurch, dass ich dieselbe Luft atmen dürfte wie diese beiden Männer, würde ich unglaublich viel lernen.“

Und da sie gerade dabei ist, fährt sie gleich fort, sich selbst kleinzureden. Man habe sie mitgenommen, weil man geglaubt habe, sie spreche Vietnamesisch, erklärt sie. „Aber da hatten sie sich geirrt!“ Sie lacht laut und herzlich. „Ich habe Vietnam verlassen, als ich zehn war. Mein Vietnamesisch ist eine Kindersprache!“ Nicht nur, dass viele neue Wörter hinzugekommen seien, für die es früher gar kein Konzept gab – „zum Beispiel der Begriff Umwelt!“ –; die Jahrzehnte unter kommunistischer Regierung hätten die Sprache allgemein verändert. „Die Sprache, die wir zu Hause mit unseren Eltern sprachen, ist das Vietnamesisch von vorher.“

Kim Thúy – ihr vollständiger Name lautet Kim Thúy Ly Thanh – stammt aus ehemals privilegiertem Hause in Südvietnam. Ihre Familie war wohlhabend und einflussreich; in der Verwandtschaft gab es etliche Minister der alten Regierung. Nach dem Sieg des kommunistischen Nordens flüchtete die Familie in den siebziger Jahren über Thailand nach Kanada. Die Geschichte dieser Vertreibung und des Neuanfangs im fremden Land erzählt Kim Thúy in ihrem ersten, stark autobiografisch inspirierten Roman „Der Klang der Fremde“.

Dass sie dieses Buch schrieb – und dass sie überhaupt mit dem Schreiben anfing –, wäre kaum möglich gewesen, wenn sie ihre juristische Karriere nahtlos fortgesetzt hätte. Nach ihrer Zeit in Vietnam, erzählt sie, habe sie mit ihrem Mann zwei Jahre in Thailand gelebt, da er dort arbeitete, und in dieser Zeit auch ihre beiden Kinder bekommen. Bei der Rückkehr nach Kanada habe sie sich ganz einfach nicht getraut, sich wieder in ihrem alten Job zu bewerben. „Nach all der Zeit, die ich draußen war, dachte ich, beim zweiten Mal würden sie endlich merken, dass ich keine Ahnung habe, was ich tue.“

Stattdessen eröffnete sie ein Restaurant. Aber, wie könnte es anders sein: „Ich konnte gar nicht kochen!“ Sie habe mit ihrer Mutter telefoniert, um sich Rezepte geben zu lassen, und jeden Tag nur ein Gericht gekocht, das dann alle essen mussten, die kamen. Die Leute liebten es. Das Lokal brummte, warf aber keinen Gewinn ab. Die Miete sei zu hoch gewesen, sagt Kim Thúy heute nüchtern, und sie selbst nicht in der Lage, die Preise vernünftig zu kalkulieren. Ihre Stammgäste hätten nach einer Weile die Preiserhöhungen selbst in die Hand genommen und die Speisekarte neu geschrieben.

Den Block umdrehen

Doch es nützte alles nichts. Sie habe in dieser Zeit, mit zwei kleinen Kindern zu Hause und einem Restaurant, in dem sie alleine in der Küche stand, an chronischer Übermüdung gelitten, sei deswegen sogar öfter mal am Steuer eingenickt, wenn sie an roten Ampeln stand. Damit das nicht mehr passierte, begann sie Zwischenstopps einzulegen und ihre Abrechnungen zu machen. Eines Tages drehte sie den Block um und begann auf der Rückseite zu schreiben. Das war der Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere.

Dass daraus eine veritable Karriere erwachsen würde, war nicht zu ahnen. Einen Monat später aber „wachte ich eines Tages auf und beschloss, das Restaurant einfach nicht mehr zu öffnen“. Das war 2006. Sie sei rein physisch am Ende ihrer Kräfte gewesen, außerdem wurde ihr jüngerer Sohn, der autistisch ist, damals eingeschult und brauchte stärkere Zuwendung.

So wie Kim Thúy erzählt, lebhaft, sprudelnd, dem Gegenüber intensiv zugewandt, wirkt sie, als verfüge sie über ein geradezu unerschöpfliches Reservoir an Energien. Der Jetlag scheint ihr nichts anhaben zu können. Man kann sich kaum vorstellen, dass sie damals nach der Schließung des Restaurants einen Monat lang zu Hause blieb, um sich zu erholen und nichts zu tun.

Und so kam es auch gar nicht; denn während dieser Auszeit schrieb sie ihr erstes Buch. Es erschien in über zwanzig Ländern, zumeist unter dem Originaltitel „Ru“; die deutschsprachige Ausgabe heißt „Der Klang der Fremde“ (Antje Kunstmann Verlag, 160 S., 14,90 Euro). Kim Thúy schildert darin die Geschichte einer Familie, die aus Vietnam flieht, und verwendet dafür viel eigenes Erleben und Geschichten, die in der Verwandtschaft erzählt wurden. Dabei folgt sie keinem strikt chronologischen Prinzip, sondern einem eher assoziativen Erzählfluss. Vorher und Nachher greifen ineinander, überlagern sich in der Erinnerung.

In schlichter und dennoch poetisch verdichteter Sprache erzählt die Autorin vom Leben in Saigon nach der Eroberung durch die Truppen des Nordens, von der Flucht mit dem Boot, von den Diamanten, die in ihr billig aussehendes Kinder-Plastikarmband eingearbeitet worden waren. Das elende Leben im thailändischen Flüchtlingslager findet ebenso Erwähnung wie Szenen aus dem Straßenleben im vorrevolutionären Saigon und die erste Zeit im kanadischen Exil.

In Kanada wurde „Ru“ zu einem Riesenerfolg – und bald zum Schulstoff. Auch in Deutschland ist das Buch mittlerweile als kommentierte Schulausgabe für den Französischunterricht herausgekommen.

Im Frühjahr erschien nun ihr zweiter Roman in deutscher Übersetzung, „Der Geschmack der Sehnsucht“. In diesem Buch geht sie freier mit dem autobiografischen Material um. Von einer Ich-Erzählerin handelt es, die nach demselben Learning-by-doing-Prinzip wie einst die Autorin selbst ein vietnamesisches Restaurant in Montreal führt. Dabei ist nicht nur viel vom Essen, von Zubereitung und Zutaten die Rede, das Essen fungiert in diesem Buch als eine Art emotionale Heimat, beziehungsweise, wie Kim Thúy es beschreibt, als „ein Ausdruck der Liebe“.

Im Vietnamesischen sei es nicht möglich, „ich liebe dich zu sagen“. „Man kann die vietnamesische Umschreibung frei übersetzen mit: Es liegt Liebe in der Luft. Genauso wenig können wir sagen: Ich bin traurig. Wir sagen: Es gibt Traurigkeit.“

Lachend erzählt sie, wie sie auf der Suche nach einer adäquaten vietnamesischen Übersetzung des französischen coup de foudre (was als Liebe auf den ersten Blick auch im Deutschen nur annäherungsweise wiedergegeben werden kann) ihre gesamte Verwandtschaft aufgescheucht habe und von überall auf der Welt – „sogar aus Australien!“ – gelehrte akademische Antworten erhalten habe. „Und das Ergebnis war, dass es kein echtes Äquivalent gibt. Am nächsten käme coup de foudre im Vietnamesischen ein Ausdruck, der bedeutet, meine Seele wurde gestohlen.“

„Der Geschmack der Sehnsucht“ ist nur vordergründig ein Buch über das Essen. Über das Essen aber werden sehr elementare Gefühle der Liebe verhandelt – der Liebe zur Familie, zu einem Mann, aber auch zur vietnamesischen Kultur. „Wenn meine Mutter meinem Vater das zarte Backenfleisch des Fisches gibt, dann ist das für sie eine völlig alltägliche Sache. Aber wenn ich das sehe, dann denke ich: Wow! Ich bin anders als meine Eltern und ihre Generation. Ich habe einen kanadischen Blick auf diese Dinge und sehe die Schönheit, die darin liegt.“

Doch obwohl sie sich als Kanadierin fühlt, und bei aller Anerkennung, die sie bekommt – sie ist in Kanada nicht nur als Autorin, sondern auch als Fernsehköchin bekannt –, habe sie immer noch dieses ureigene Gefühl der Immigranten, hinter der Gesellschaft herzuhinken, etwas aufholen zu müssen. „Dieses Gefühl, zehn Jahre zu spät zu kommen, das wird einem zur zweiten Natur.“ Deshalb schaffe sie es wohl auch nicht, eine Treppe ganz normal hinunterzugehen statt zu rennen.

Und kichernd erzählt sie, wie ihr Mann sie einmal im Urlaub überredete, mit ihm an einem See zu sitzen. „Aber wozu?“, habe sie gefragt. „Ich habe den See doch schon gesehen!“ Ganze zwei Minuten habe sie das ausgehalten. „Dann bin ich ins Haus gegangen und habe die Kartoffeln geholt, die wir später essen wollten. Die konnte ich schälen, während ich da mit ihm am See saß.“

Kim Thúy: „Der Geschmack der Sehnsucht“. Deutsch von Andrea Alvermann und Brigitte Große. Kunstmann Verlag, München 2014, 143 Seiten, 16,95 Euro