Wo die Bilder wohnen

PROVENIENZFORSCHUNG Melissa Müller und Monika Tatzkow haben ihr Aufklärungsbuch über den nationalsozialistischen Kunstraub um ein Kapitel zum Kunsthandel erweitert

VON ELISABETH WAGNER

In einer sehr berühmten Erzählung Ilse Aichingers kommt das Ich nach dem Konzertbesuch abends nach Haus und findet die eigene Wohnung nicht mehr im vierten, sondern im dritten Stock. Die Nachbarn, die gerade noch eine Etage tiefer wohnten, wohnen jetzt gegenüber. Es ist absurd, besonders weil sich sonst niemand wundern mag. „Verzeihen Sie, wohnten Sie nicht gestern noch einen Stock höher?“ Auf diese Frage wartet und hofft das Ich vergeblich. Niemand fragt, selbst dann nicht, als das Ich im Keller angekommen ist und darüber nachdenken muss, wie es sein wird, wenn es bald im Kanal wohnen wird, dort, „wo das Haus aufhört“.

Wie in dieser Erzählung ist es auch in Wirklichkeit. „Verzeihen Sie, war das nicht gestern noch Ihr Bild?“ An keinen einzigen Fall einer solchen Frage kann sich die Provenienzforscherin Monika Tatzkow erinnern. Gefragt haben die, denen man die Bilder gestohlen hat. „Verzeihung, vielleicht haben Sie mein Bild gesehen?“ In einem gerade erschienenen Buch lässt sich über dies Verkehrung der Maßstäbe einiges erfahren.

„Verlorene Bilder, verlorene Leben“, ein leidenschaftliches Aufklärungsbuch, berichtet über die Schicksale 15 jüdischer und von den Nazis „jüdisch-versippt“ genannter Kunstsammler. Die Journalistin Melissa Müller und die Provenienzforscherin Monika Tatzkow haben die sorgsam illustrierte Recherche vorgelegt, 2009 zum ersten Mal. Für die amerikanische Ausgabe wurde sie 2010 aktualisiert und jetzt um ein grundsätzliches Kunsthandel-Kapitel erweitert.

Die Neuauflage kommt zur rechten Zeit, denn sie kann helfen, die Dinge im Fall Gurlitt in die richtige Perspektive zu setzen. Ihre Leser wird sie vor Sensationslust und voreiligen Schlüssen bewahren, die ja immer auf den Einzelfall spekulieren.

10 Reichsmark ins Getto

Der Schock sei eine Sache der Medien, schreiben die Autorinnen, keine der Branchenkenner. Letztere wissen, dass es viele Fälle gibt, die Aufmerksamkeit verdienen. Sie kennen die Ressentiments, hören regelmäßig, wie die Frage, wem die Bilder eigentlich gehören, ersetzt wird durch die Warnung vor jüdischen Erbengemeinschaften, die es wagen, zurückerstattete Bilder für sehr viel Geld zu verkaufen. „Keinem anderen als einem jüdischen Sammler“, sagt Monika Tatzkow, „macht man den Verkauf von Bildern zum Vorwurf.“

Unproblematisch sei es geradezu gewesen, Geschäfte mit Raubkunst zu machen. Das Verschleiern gehörte zum Handwerk. Im Feuersturm auf Dresden seien „alle Geschäftsunterlagen und Bestände unserer Firma verbrannt“, log die Witwe Hildebrand Gurlitts. Knapp 34 Jahre ist ihr Sohn Cornelius damals alt, fast 80, als die Staatsanwaltschaft Augsburg klingelt. Dem Sohn lässt man die Rolle des Sonderlings, des ohne seine Bilder nicht überlebensfähigen, herzkranken Opfers. Es folgt eine Vereinbarung im Sinne der Washingtoner Prinzipien zwischen ihm und der Regierung. Letzte Woche starb Cornelius Gurlitt. Als Aufklärer trat er auf; ob es ihm gefiel oder nicht, eine Umkehrung der Fragerichtung ist erstmals möglich.

Zur Einübung in den sogenannten Paradigmenwechsel sei die Lektüre von „Verlorene Bilder, verlorene Leben“ wie gesagt dringend empfohlen. In den Zeitungsmeldungen taucht die Erinnerung an die Grausamkeit einer „Judenauktion“ gewöhnlich nicht auf, die Gier, aus den abgepressten, gestohlenen Bilder, nur ja den maximalen Gewinn zu ziehen. Im Buch ist Platz dafür. Es begegnen einem die großen Händler wie Hildebrandt Gurlitt, der seine Sekretärin die Anfragen von verhungernden Juden aus dem Getto Lodz, ob man ihnen für die überlassenen Bilder etwas Geld schicken möge, mit der Zusage auf 10 Reichsmark beantworten ließ. Orte wie das Kölner Auktionshaus Lempertz, dem die Familie Gurlitt seit jeher vertraut.

Im Dezember 1939 wurde dort die Kunstsammlung Walter Westfelds versteigert. Aus der Gestapohaft hatte man Westfeld für einige Tage nach Köln überführt, um bei der Versteigerung seines 1938 beschlagnahmten Besitzes hilfreich zu sein. Seine Hoffnung, dass er den Raub überleben möge, erfüllte sich nicht. Von Theresienstadt kam er nach Auschwitz. Seiner wegen „Rassenschande“ denunzierten Witwe, der er auf einem Stück Stoff ein Testament hinterließ, sagte man nach dem Krieg, es sei alles verloren. Erst jetzt tauchen Bilder wieder auf. Eines davon, ein Franz-von-Lenbach-Gemälde, hängt seit 1998 in der Stadtsparkasse der Gemeinde Burladingen, dessen Bürgermeister sich nicht an die Washingtoner Prinzipien gebunden sieht. „Der Walter Westfeld ist ja tot. Er ist im KZ verschollen, mehr wissen wir nicht.“

Deutlicher lässt sich nicht sagen, dass man es nicht wissen will. Ein Gramm mehr von der Wahrheit, und der Platz vor dem vermeintlich eigenen Bild würde ungemütlich. Welche Dreistigkeit dazu gehört haben muss, dass mancher Museumsdirektor, manche Galerie die Herkunft der Bilder verschleiern konnten, die wie ein verdrängter Schatten durch den Kunsthandel der Nachkriegszeit zog, das ist eine eindringliche Erfahrung der Lektüre dieses Bandes, zu der aber unbedingt auch die Erinnerung an Geist und Blüte gehört.

Für einen Moment hängt Kandinskys Improvisation Nr. 10 bei Sophie Lissitzky-Küppers. Oder Otto Dix in der Berliner Wohnung des in Grund und Boden betrogenen Paul Westheim. Der Reichtum einer verlorenen Kultur steht am Anfang eines jeden Kapitels, auf den der Schrecken, Stockwerk für Stockwerk, mit brachialer Selbstverständlichkeit folgt.

■ Melissa Müller/Monika Tatzkow: „Verlorene Bilder, verlorene Leben. Jüdische Sammler und was aus ihren Kunstwerken wurde“. Elisabeth Sandmann Verlag, München 2014, aktualisierte Neuauflage, 272 Seiten, 180 Abbildungen, 39,95 Euro