Neuer Brasil-Pop: Das Pferd im Spiegel

In der Heimat ein Star, hierzulande noch zu entdecken: Rodrigo Amarante und sein großartiges Debütalbum „O Cavalo“

Auch beim Foto ohne brasilianische Klischees: Rodrigo Amarante. Bild: Promo

Auf der Website von Rodrigo Amarante zeigt ein Video in anheimelnder Super-8-Ästhetik eine reifere Dame, die verlegen in die Kamera albert. Dann sieht man, wie lachende Menschen, junge und auch ältere, sich gegenseitig schminken, in selbstgemachte Kostüme schlüpfen, herumtollen und sich vergnügt zu einer frenetischen, hüftschwingenden Straßenparade formieren. Immer wieder grüßen die Leute dabei in die Kamera, als wäre eine große Familie versammelt.

Die verwackelten, nostalgischen Sequenzen sind authentisch: Rodrigo Amarantes Vater hat sie in den Siebzigern in Brasilien aufgenommen – während des Karnevals in Saquarema, einem Städtchen unweit von Rio, wo Amarante 1976 geboren wurde. Seine ganze Familie und der engste Freundeskreis seien da zu sehen, erläutert der Multiinstrumentalist und Sänger in einem kurzen Text unter dem Video. Und sobald er alt genug war, um selbst einen Drumstick halten zu können, habe er mitgetrommelt, mitgetanzt, mitgefeiert – schreibt er.

Den Film aus dem familiären Fundus hat Amarantes Schwester Marcela geschnitten. Den mitreißenden Samba-Song „Maná“, der ihn untermalt, hat Rodrigo wiederum für sie persönlich komponiert, als sie sich in einer Lebenskrise befand. Der Song beschwört die heilende Kraft der Musik herauf.

Therapeutischer Zweck

Rodrigo Amarante: „O Cavalo“ (Believe Digital)

live: 18. Mai „Privatclub“ Berlin

Das gesamte Album, aus dem „Maná“ stammt, ist durch und durch persönlich – zu selbsttherapeutischen Zwecken, wie Amarante mitteilt. „O Cavalo“ (das Pferd) – so heißt das Album – ist das erste Musikprojekt, dessen Zügel Amarante ganz allein in der Hand hält.

Es verarbeitet bedeutende Brüche im Leben des Musikers: 2008 zog es ihn von seiner Heimat nach Kalifornien, nachdem sich im Jahr zuvor seine Band Los Hermanos aufgelöst hatte. Los Hermanos (Spanisch für Brüder) war nicht nur irgendeine Rockband: 1997 von vier bärtigen Studenten in Rio de Janeiro gegründet, avancierte sie zielsicher zur Kultband des Landes, die innerhalb einer Dekade mehr als 1.000 Konzerte gab und vier gefeierte, millionenfach verkaufte Alben produzierte.

Mit anderen Worten: Rodrigo Amarante war und ist in Brasilien ein absoluter Superstar. Doch selbst wenn die zwei letzten Los-Hermanos-Alben in den Top 100 der „besten brasilianischen Alben aller Zeiten“ des Rolling Stone rangieren, selbst wenn die Band 2009 nebst prominenter Begleitung à la Radiohead noch mal ein Comeback auf den Konzertbühnen feierten, und selbst wenn der talentierte Songwriter Amarante von der US-Elite der Rock- und Folkszene umgarnt und nach Kalifornien gelockt wurde, so ist es doch eher unwahrscheinlich, dass Amarante auf den Straßen San Franciscos nach einem Autogramm gefragt wird. Geschweige denn erkannt.

Fernab vom Medienrummel

„The ribbon is cut / Now cameras are gone“, singt er im Song „The Ribbon“, das von einer akustischen Gitarre und einer Art Summen einer vorbeifliegenden Hummel begleitet wird. Fernab vom Medienrummel seziert Amarante darin sich selbst und beobachtet den Fremden im Spiegel, „den Raum zwischen dir und mir“, wie er unaufgeregt im Schmachtfetzen „Nada Em Vão“ singt, der nicht von ungefähr zum eng zu tanzenden Stehblues animiert.

Rodrigo Amarante singt auf Portugiesisch und Englisch. Eine dritte Sprache, Französisch, hat er ausgewählt, um das dem Exil geschuldete Fremdsein zu thematisieren: „Ich bin der Fremde / Das kann man sehen / Ich spreche nicht / So ganz wie du“, singt er in „Mon Nom“ (Mein Name). Er klingt dabei ein wenig wie ein Kind, verwundert, aber vergnügt zugleich. Doch diese Leichtigkeit trügt: Schon bald führen das Fremdsein und die „Saudade“ – die Sehnsucht nach seinem Zuhause – zum eigentlichen Thema des Albums.

Von der Gitarre und einem rhythmischen, kaum wahrnehmbaren Kratzen untermalt, knüpft beispielsweise das Lied „Irene“ an den gleichnamigen Song des brasilianischen Sängers und linken Aktivisten Caetano Veloso an. 1969 besang der vor der brasilianischen Militärdiktatur nach England geflüchtete Veloso darin das Lächeln seiner Schwester Irene.

Einfach unvergesslich

Amarante hingegen besingt das Gesicht einer ungenannten, geliebten Frau, die er nicht vergessen kann. Die Exil-Beweggründe beider Stars könnten dabei kaum unterschiedlicher sein: Veloso drohte in Brasilien der sichere Tod, Amarante – wenn man so will – eine kleine Midlife-Crisis. Ganz so ernst muss man den jungen Mann mit unverkennbarem Hipster-Look samt Bart und Karohemd in Kalifornien aber auch nicht nehmen.

Vor allem bestechen seine melancholischen Songs durch ihre unaufgeregte Schlichtheit – und eine radikale Langsamkeit. „Tardei, tardei, tardei / Mas cheguei, enfim“, verabschiedet er sich im letzten Track: Obgleich es gedauert hat, sei er nun angekommen.

Aus dem Video des eingangs erwähnten Samba „Maná“ bleiben vor allem die älteren Herren in Erinnerung, wie sie sich mit zerknitterten Pappkrönchen, rutschenden BHs und ausgelassenem Hüftschwung gegenseitig veräppeln. Über sie schreibt Amarante: „Sie sind der Beweis, dass trotz unserer Annahme, wir seien im 21. Jahrhundert ungewohnt frei und modern, unsere Großeltern – oder zumindest meine – weniger spießig waren als wir.“

Amarante kann dankbar sein: Von ihrer charmanten Unverfrorenheit hat er ein wenig geerbt.

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