„Ein wegweisender politischer Handel“

ZEITGESCHICHTE „Keine Experimente“ – Historiker Ulrich Herbert über Krisen, Weltkriege, Adenauer und die Nachkriegsordnung

■ geb. 1951, ist Professor für Neuere Geschichte in Freiburg und einer der führenden deutschen Holocaustforscher. Bekannt wurde er mit Studien über Zwangsarbeiter. Gerade erscheint von ihm „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ im C. H. Beck Verlag, München, 1.451 Seiten, 39,95 Euro.

INTERVIEW STEFAN REINECKE

taz: Herr Herbert, 1946 sagt Theodor Heuss: Der Grund für die NS-Katastrophe war nicht die Wirtschaftskrise, sondern dass Deutschland eine „Geschichte der Freiheit“ fehlte. Ist das der Schlüssel, um Hitler zu verstehen?

Ulrich Herbert: Das glaube ich nicht. Da klingt an, dass das Minus an Demokratie entscheidend zu 1933 führte. In dieser Denkfigur leidet Deutschland, im Vergleich zu England oder Frankreich, an einen tiefsitzenden Mangel an republikanischen Revolutionen seit dem 16. Jahrhundert. Da stimmt manches, aber es verdeckt die Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und anderen Gesellschaften.

Welche?

Es gab in Deutschland 1914 das allgemeine Männerwahlrecht, die am besten organisierte Arbeiterbewegung, 1912 wurde die SPD stärkste Partei. Davon waren andere Länder zu der Zeit weit entfernt. Das wilhelminische Deutschland hatte parlamentarische Defizite. Aber es gab einen Rechtsstaat und fortschrittliche Sozialpolitik, während es in England kein allgemeines Wahlrecht gab und die Klassenunterschiede extremer waren als in Deutschland. Wenn man 1910 fragte, aus welchem europäischen Land ein antisemitischer, autoritärer Staat wird, lautete die Antwort zuverlässig: Frankreich. Die anderen Staaten als Norm, Deutschland als Abweichung, das erklärt nichts.

Es gibt keinen markanten gesellschaftlichen Unterschied zwischen Deutschland und dem Westen vor 1914?

Doch, vor allem das Tempo. Deutschland verwandelt sich rasend schnell, in 25 Jahren, von einem Agrarland zur führenden Wirtschaftsmacht in Europa. Mark Twain schreibt 1892, im Vergleich zu Berlin wirke Chicago alt. Berlin sehe aus, als sei es „vorige Woche erbaut worden“. Eisenbahn, Mobilität, die Explosion der Städte, Telefon, Filme, Fabriken: Die Lebenswelt verwandelt sich so schnell wie nie zuvor in der Geschichte. Und das passiert in Deutschland nach 1890 extremer als in Frankreich, Großbritannien oder Italien.

Warum ist das Tempo so wichtig?

Weil diese Dynamik Angst macht und Zeit als Puffer für Gewöhnungsprozesse fehlt. Das Bürgertum befördert den technischen Fortschritt und den Ausbau des Bildungssystems. Aber gleichzeitig betritt die Arbeiterklasse die Bühne, die Frauenemanzipation beginnt, ebenso die moderne Massenkultur. Das verunsichert das Bürgertum nicht nur in der Provinz, nicht nur den Apotheker in Calw, sondern flächendeckend. Das Bürgertum schafft Großstädte, aber diese Großstädte ängstigen es. Ludwig Klages, ein Modephilosoph um 1910, beschreibt diesen Ekel vor der modernen Kultur, vor dem elektrischen Licht, vor den Juden und der S-Bahn. Das Bürgertum verliert im Wilhelminismus das Vertrauen in die eigenen Erfolge.

Erklärt das 1933?

Es ist ein wichtiger Punkt. Entscheidend ist dann aber der verlorene Krieg 1918: der tiefe Sturz aus großer Höhe.

Das ist nicht neu. Werden Versailles und die Niederlage als Bedingungen für 1933 nicht überschätzt?

1918 wird als extremer Schock erlebt, als völlig unverständlich, unerwartet. inakzeptabel. Dabei spielt eine Rolle, dass der Erste Weltkrieg, von Ostpreußen 1915 abgesehen, nicht auf deutschem Boden stattfindet. Die nationalen Energien sind 1918 noch nicht verbraucht. Hinzu kommt dann die rasche Abfolge von katastrophisch erfahrenen Krisen in der Weimarer Republik, von Aufständen und Putschversuchen von links und rechts, Inflation, Weltwirtschaftskrise. Da wächst das Bewusstsein: Republik und kapitalistische Demokratie funktionieren nicht. Man braucht andere, radikale Lösungen, nicht das Mittlere, Bürgerliche.

Ist das vor allem ein deutsches Phänomen?

Keineswegs. Das reicht weit über Deutschland hinaus. Mitte der dreißiger Jahre sind liberale Demokratien in Europa schon die Ausnahme. Von Madrid bis Warschau, von Moskau bis Budapest: überall autoritäre, antiliberale Diktaturen. Der Glaube, dass Politik nach militärischem Vorbild organisiert sein muss, dass der Diktatur die Zukunft gehört, besteht nicht nur in Berlin. So kann man auch die radikalsten antiliberalen Regime, Nationalsozialismus und Stalinismus, nur als Reaktionen auf die Krise der Moderne verstehen.

Unterschätzen Sie nicht die Rolle der antidemokratischen deutschen Rechten? Wenn man sich die Eroberungspläne Richtung Osten des Alldeutschen Verbandes 1914 und der Nazis 1939 anschaut – sieht man doch deutliche Kontinuitätslinien des deutschen Imperialismus?

Kontinuität ja, Identität nein. Max Weber, der liberale Soziologe, war 1914 auch ein Anhänger des deutschen Kolonialismus. Aber es stimmt: Der Alldeutsche Verband entwickelt lange vor 1914 Expansionspläne nach Westen und Osten, wollte Juden unter Fremdenrecht stellen und das Parlament abschaffen. Die Lehre der nationalen Rechten aus dem verlorenen Krieg lautet 1918: Wir waren zu weich, wir müssen erst den Feind im Inneren ausschalten, um dann Revanche gegen den Feind außen zu nehmen.

Das war die Blaupause für die Nazis.

Ja – aber man muss auch sehen: Es ist 1924 noch völlig offen, ob sich diese Kräfte oder die Anhänger der liberalen Demokratie durchsetzen. Die Republik hat die Putsche und Aufstände der Nachkriegszeit überstanden, dann sogar die Inflation, obwohl das kaum jemand für möglich hielt. In der Weltwirtschaftskrise aber formte sich die Überzeugung bei der Mehrheit: die Republik ist am Ende.

Haben die Deutschen Glück gehabt im 20. Jahrhundert?

Nach 1945 ganz gewiss. Dieses Jahrhundert besteht ja offensichtlich aus zwei extrem unterschiedlichen Hälften: erst Krieg, Chaos, Terror und Massenmord – nach dem 8. Mai 1945 im Westen Demokratie, Wirtschaftswunder, Stabilität. Das wiederum ist von 1945 aus gesehen mehr als unwahrscheinlich. Es gab ja damals bei den Alliierten Überlegungen, ob Deutschland komplett zerteilt werden sollte. Schließlich existierte dieses Deutschland ja erst seit 75 Jahren und hatte als Nationalstaat unfassbares Unheil angerichtet. Doch dann entsteht der Kalte Krieg und damit die Notwendigkeit, Westdeutschland politisch und wirtschaftlich eng an den Westen zu binden: der Marshallplan. Und innerhalb von drei Jahren war aus dem Kriegsgegner Nazideutschland mit seinen Massenverbrechen der gesuchte Partner des Westens geworden.

Das ist ein unverdienter Zufall.

Vor allem ist es ein wegweisender politischer Handel. Die Westdeutschen dürfen wieder mitspielen, stehen unter Aufsicht und werden domestiziert, sodass sie ungefährlich sind.

Sind die Deutschen nach 1945 ungefährlich? Ist die Niederlage der nationalistischen Rechten nach dem 8. Mai vollkommen?

Was den NS-Entwurf angeht – ja. Selbst das Gros der Nationalsozialisten glaubt nicht mehr an den NS-Staat – schließlich hatte er verloren und sich als darwinistisches Konzept selbst widerlegt. Und außerdem wurden nach dem Kriege Hunderttausende von Nationalsozialisten erst mal eingesperrt, entnazifiziert, viele auch bestraft. Dass ein paar Jahre später die meisten von ihnen in Westdeutschland wieder zu Amt und Würden kamen, glaubten sie nach dem Kriege ja selbst nicht. Und außerdem hatte es die nationale Rechte in der Bundesrepublik schwer.

Wieso?

Aus 1933 zog die SPD unter Kurt Schumacher den Schluss: wir müssen nationaler sein und linker, um nicht wieder zwischen Nazis und KPD zerrieben zu werden. Deshalb agiert die SPD in den 50er Jahren nationaler als Adenauer. Adenauer erkennt schon 1945 scharfsinnig den entstehenden Kalten Krieg und setzt auf Westintegration – und nicht auf nationale Einheit. So entsteht in der frühen Bundesrepublik eine spiegelverkehrte Anordnung zur Weimarer Zeit, als die Konservativen antiwestlich und die SPD prowestlich waren. In der Bundesrepublik ist die antiwestliche Rechte damit heimatlos.

Ein Paradox bleibt: Wie wurde die Bundesrepublik trotz dieser extremen NS-Elitenkontinuität und dem Autoritären des Adenauer-Staates eine liberale Gesellschaft?

Die frühere NS-Elite ist nach 1945 zum Opportunismus gezwungen. Die Bundesrepublik ist unter Adenauer eine autoritäre Demokratie. Aber sie ist stabil – und das ist wichtig. Denn wer um 1900 geboren wurde, hatte bis dahin fünfzig Jahre lang fast ausschließlich Krisen, Krieg und Katastrophen erlebt – und sehnte sich nur nach einem: Stabilität. „Keine Experimente“, der CDU-Wahlslogan 1957, traf dieses Empfinden ganz genau. Auf diesem betonierten Fundament wächst seit Ende der 50er Jahre erst zaghaft, später resolut eine kritische Öffentlichkeit.

Also war Adenauer die dialektische Voraussetzung für die radikale Kritik der 68er?

In der Bundesrepublik entsteht eine spiegelverkehrte Anordnung zur Weimarer Zeit

In gewisser Weise ist Adenauer tatsächlich eine Voraussetzung für die spätere Liberalisierung. Das wird klarer, wenn man sich die Weimarer Republik vergegenwärtigt. Damals gab es ein Übermaß an ätzender Kritik an den demokratischen Regierungen in einem schwachen Staat. Das ist in den 50er Jahren anders. Hier gibt es eine starke, autoritäre Regierung und stabile Institutionen – dagegen erwächst allmählich die Kritik und die Forderung nach mehr Liberalität und Mitbestimmung.

Aber zentral für die Stabilität der Bundesrepublik ist doch nicht Adenauers Stil, sondern das Wirtschaftswunder: It’s the economy, stupid! Oder?

Ganz gewiss. Interessant ist aber, dass in Deutschland das „Wirtschaftswunder“ noch immer für ein nationales Ereignis gehalten wird. Das war es nicht. Es gibt ähnliche Wachstumsraten in den 1950er Jahren in Italien, der Schweiz, Belgien, den Niederlanden. Das ist ein Effekt von Krieg und Wiederaufbau sowie des Abbaus von Handelshindernissen durch die europäische Einigung.

Die Europäische Union als Fluchtpunkt der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts – die Erlösung im Postnationalen?

Mit solch teleologischen Zuordnungen wäre ich vorsichtig. Die EU entsteht aus zwei Impulsen. Aus der Überzeugung: Nie wieder Krieg! Und aus wirtschaftlichen Interessen. Die Eliten denken schon in den 50er Jahren in globalen Großräumen – da sind europäische Nationalstaaten zu klein, zu schwach.

Aber an der Einhegung Deutschlands, gerade nach 1990, bestand ein handfestes Interesse in Europa?

Die Einhegung Deutschlands war immer ein Interesse der Nachbarländer. Sie profitierten von der wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik. Aber am meisten profitierten die Deutschen selbst – diese Grundstruktur kann man vom Marshallplan bis zum Euro verfolgen.

Dennoch hat die Eurokrise gezeigt: Berlin kann diktieren, was in Südeuropa passiert. Hat Deutschland nun wieder eine zumindest halbhegemoniale Stellung in Europa?

Auch da wäre ich vorsichtiger. Nicht nur, weil die südeuropäischen Eliten ihren satten Anteil an der Eurokrise haben. Erinnern wir uns an das Jahr 2000, als Deutschland als der „kranke Mann am Rhein“ galt. Die DDR-Wirtschaft galt als Fass ohne Boden, die westdeutsche Wirtschaft als veraltet. Damals hat keiner von Berlin als Hegemon in der EU geredet.

Also ist die deutsche Hegemonie in Europa keine Gefahr?

Doch. Aber es ist für Historiker nicht weitblickend, eine Situation, die es seit 2008 gibt, auf die Zukunft hochzurechnen. Ich glaube, dass viele linke Intellektuelle in Bezug auf die EU einen ähnlichen Fehler machen wie in der Bundesrepublik unter Adenauer. Sie maßen damals die Republik an einem Idealbild und wandten sich gelangweilt mit einer Geste der Verachtung ab. Diese Haltung gibt es auch und zunehmend gegenüber der EU. Das ist ein Fehler, weil man Europa so den Eliten, den Bürokraten und den Europagegnern überlässt.

■ Am 3. Juni um 18 Uhr stellt der Autor sein neues Buch in der Uni Jena vor, am 6. Juni im Literaturforum im Berliner Brecht-Haus