Mit dem Rot einer Blutlache

POESIE „Brüche“ war das diesjährige Leitthema des Poesiefestivals Berlin – am Donnerstag ging es am Beispiel Ukraine um die Lyrik in Zeiten des Krieges

Die heutige Ukraine ist nach den Worten des Schriftstellers Serhij Schadan „ein Land, in dem die nachsozialistische Transformation schiefging, wo die Gesellschaft in eine Art Naturzustand zurückglitt, wo die Sonnenuntergänge atemberaubend und lila schillern, weil die Umweltzerstörung inzwischen eine eigene Art der Naturschönheit heraufbeschwört“, bis die Gewalt offen ausbrach.

Der vorletzte Tag des Poesiefestivals Berlin mit dem diesjährigen Schwerpunkt auf dem Thema „Brüche“, mit den auch kriegerischen gesellschaftlichen Umbrüchen im Blick, war der Ukraine gewidmet. Von 18 bis 20 Uhr unterhielten sich am Donnerstag in der Akademie der Künste im Hanseatenweg AutorInnen aus unterschiedlichen Teilen des zerrissenen Landes über die aktuelle Situation, danach trugen ukrainische DichterInnen Gedichte vor, die teils in der aktuellen Situation entstanden sind. Der Abend endete mit einer von Wladimir Kaminer initiierten russisch-ukrainischen Freundschaftsdisko, bei der auch Konstantin Mishukov beteiligt war, der auf dem Maidan während der Proteste aufgelegt hat.

Fast alle Zuschauerplätze der Studiobühne waren besetzt, als einstimmend zunächst ein etwas unangenehm pathetischer Kurzfilm über die „Revolution der Würde“ auf dem Maidan gezeigt wurde. Was der Moderatorin Christiane Hoffmann vom Spiegel Gelegenheit gab, die anwesenden AutorInnen nach ihren Ansichten zum Maidan zu fragen.

Allein die in Lugansk (also der am 14. April ausgerufenen „Volksrepublik Lugansk“) lebende Dichterin und Journalistin Jelena Saslawskaja sah die Kiewer Ereignisse kritisch. Sie bezeichnete die Interimsregierung, die sich nach der Maidan-Revolution gebildet hatte, als „Junta“. Eigentlich müsse man auch von zwei Revolutionen sprechen: der, die am Maidan stattgefunden hatte, und der, die dann in Osten der Ukraine losging.

Juri Andruchowytsch, der als bekannteste literarische Stimme der Ukraine vorgestellt wurde, zeigte sich erstaunt über die Meinung der Dichterin, die er ansonsten sehr schätze, und nahm sie in eine Art Verhör: „Wann fingen die Leute im Donbass an zu protestieren?“, fragte er, „teilen Sie die Meinung, dass es ein Putsch gewesen war“ und so weiter. Jelena Saslawskaja sagte, es seien vor allem Vertreter der alten Generation und marginalisierte Menschen gewesen, die sich in Lugansk aufgelehnt hätten, erwähnte noch einmal deren Forderungen nach einer föderalen Struktur des Landes, nach einer festgeschriebenen Zweisprachigkeit, nach Straffreiheit für die jetzt als Terroristen bekämpften Separatisten. Die Revolution vom Maidan hielt sie erwartungsgemäß für einen Putsch, in den ukrainischen Soldaten, die die selbst ernannten Volksrepubliken belagern, sah sie Feinde.

Man wunderte sich etwas, dass Andruchowytsch die Positionen der Dichterin zuvor nicht gekannt hatte, und mutmaßte, dass hier – wie er später selber sagte – ein „Theaterspektakel“ aufgeführt wurde, bei dem jeder die ihm zugedachte Rolle spielte.

Wer die Ereignisse in der Ukraine ausführlich verfolgt hatte, erfuhr an diesem Abend nicht viel Neues; in Details wurde die ukrainische Tragödie nur noch deutlicher. Manchmal tauchten neue Begriffe auf, etwa der des „russischen Frühlings“, der am 1. März in Odessa begonnen habe.

Natur, Zeit und Krieg

Im zweiten Teil des Abends lasen sechs ukrainische DichterInnen aus unterschiedlichen Teilen des Landes Gedichte. Teils wurden die deutschen Übersetzungen auf einer Leinwand eingeblendet; teils auf Deutsch noch einmal vorgetragen. Es ging um Liebe, Natur, Zeit und Krieg und war beeindruckend.

„Mit Aquarell- und Buntstiften zeichnen die Kinder im Malbuch, / mit dem Rot einer Blutlache, mit dem Grün / eines militärischen Helms, / mit dem Schwarz von Schwermut und Trauer, / mit dem Grau des Alltags. / Je schrecklicher die Geschichte, / desto weniger lässt sie sich anklagen“, heißt es in einem Gedicht des in Odessa lebenden Boris Chersonskij, der in den 70er und 80er Jahren zu den wichtigsten Samisdat-Dichtern zählte. DETLEF KUHLBRODT