Ausgerissenes Herz

THEATER Alte Stücke in nicht immer neuer Form beim Festival Theaterformen in Braunschweig

Ein Mann vögelt eine junge Frau im strömenden Regen neben einer Kutsche. Ein anderer nimmt das Blumenmädchen im Schlaf. Als seine Geliebte sich von ihm trennen will, droht ihr Liebhaber sich zu erschießen – und erschießt dann doch lieber sie.

Die melancholischen Erzählungen des russischen Literaturnobelpreisträgers Iwan Bunin, die dem Stück „Dunkle Alleen“ beim Festival Theaterformen in Braunschweig zugrunde liegen, stammen unverkennbar aus einer anderen Zeit. Das liegt nicht nur an den altmodischen Begriffen wie Väterchen und Mütterchen, denen die Zuschauer des Jaunis Rigas Teatris über Kopfhörer in der deutschen Simultanübersetzung ausgesetzt sind, sondern vor allem an der Art, wie Mann und Frau in den einzelnen Episoden miteinander umgehen. Es war eben eine andere Zeit, als der erste Sex noch geheim bleiben musste und das Zeug zum Skandal hatte, den man ausschließlich durch eine plötzliche Abreise nach Moskau verhindern konnte.

Retro-Theater

Und überhaupt, die Kommunikation zwischen Männern und Frauen hat sich nach den unendlichen Gender-Debatten grundsätzlich verändert. Bunins Figuren wirken dagegen seltsam unbehauen und mit einem Hang zum Melodramatischen ausgestattet, dem der lettische Regisseur Vladislavs Nastavševs nur zu allzu gern nachgibt. Seine „Dunklen Alleen“ sind harmloses Retro-Theater. Die Schauspieler bleiben ohne Bruch in ihren Figuren. Wenn einer erschossen wird, bricht er zusammen und muss weggetragen werden. Die Bühne ist leer bis auf ein paar Stühle und einen rollenden Tisch, auf dem es zu einem schönen Bild kommt, als der Liebhaber seine auf dem Tisch stehende Geliebte sanft durch den Raum gleiten lässt.

Zwischen den Szenen plätschert Nastavševs Musik so harmlos melancholisch dahin wie der ganze Abend, der es nicht schafft, seine Zuschauer in die Abgründe moderner Paarbeziehungen mitzunehmen, sondern in einem nett anzusehenden literarischen Museum verharrt.

Im Kontrast dazu hat die Schweizer Performance-Gruppe Trickster-p einen ganz anderen Weg eingeschlagen, obwohl auch sie sich mit einem alten Stoff auseinandersetzt. In „B“ haben die Künstler das Märchen vom Schneewittchen in ein Labyrinth aus elf kistenähnlichen, nur einzeln begehbaren Kammern verwandelt, die kleine Türen verbinden, durch die nur Zwerge aufrecht gehen können. Eine Welt der Geheimnisse, von denen dieser Text einige verrät.

Leibhaftiger Zwerg

Jede Station führt den einzelnen Besucher tiefer in den dunklen Wald des grimmschen Märchens. Kleine Requisiten öffnen Assoziationsräume und verängstigen. Etwa im violett ornamentierten, dunklen Gang der bösen Königin, der in den Wald führt. Über die Kopfhörer hören wir bedrohlich nahes Hundegebell und um die Ecke liegt eine tote Amsel mitten auf dem engem Weg. Immer wieder geistert auch die Sehnsucht Schneewittchens nach der toten Mutter durch dieses Kammer-Labyrinth, deren Mama-Räume mit einem erdrückend weichen Schaumstoff gepolstert sind. Sieben lebendige Fliegen bereiten die Besucher auf die Begegnung mit den Zwergen vor. Und ganz zum Schluss liegen die Indizien des Schneewittchen-Prozesses eingeschweißt auf dem Boden, Puppen, Schuhe und ein herausgerissenes Herz, bevor ein leibhaftiger Zwerg die Tür öffnet und einen auf einem kleinen Fahrrad zum Ausgang geleitet.

In ihrer Schneewittchen-Installation öffnet die Gruppe Trickster-p vertikale und horizontale Assoziationsräume, statt sich auf eine eindeutige Nacherzählung des Märchens zu beschränken. Und sie wirft den Zuschauer auf sich selbst zurück, der in der Einsamkeit der einzelnen, wirklich engen Kammern schon einmal Platzangst bekommen kann. 35 Minuten dauert diese einzigartige Reise, 35 Minuten, die allein schon eine Reise nach Braunschweig lohnen.

ALEXANDER KOHLMANN

■  Theaterformen Braunschweig, bis 22. Juni, „B“, 18. 6.–22. 6., 16–19 Uhr