Kino aus Frankreich: An den äußeren Rändern der Liebe

Der herausragende Film „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“ agiert wie seine Protagonistin – verschwindet sie, reißt auch er für einige Jahre ab.

Sara Forestier als Suzanne Merevsky und Paul Hamy als Julien. Bild: Arsenal Filmverleih

Nicolas Merevsky (François Damiens) sieht bereits nach einer halben Stunde von Katell Quillévérés Film „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“ (Original: „Suzanne“) nicht mehr ganz so frisch aus. Der Mann, der kurz zuvor noch mit seinen beiden kleinen Töchtern Maria und Suzanne am Küchentisch saß, eine durch die Hausaufgaben delegierte und mit der anderen schimpfte, bis aus den Kinderaugen dicke Tränen quollen, ist sichtlich gealtert.

Das liegt zum einen daran, dass im Film tatsächlich ein beachtlicher Zeitsprung unternommen wurde. Zum anderen haben sich über das Gesicht von Nicolas nicht nur die Jahre und mit ihnen das Alter gelegt – auch Sorgen haben sich tief in seine Mimik eingegraben. Als der Kraftfahrer Nicolas in einer Szene das Gespräch mit einem 25-jährigen Tramper aufnimmt, zückt er recht bald die Fotokopie einer jungen Frau und fragt: „Hast du sie schon einmal gesehen?“

Es ist ein Foto von Suzanne (Sara Forestier). Sie war das Mädchen, dass sich etwas mürrisch über die Schulaufgaben beugte. Man sieht nicht genau, dass sie es ist, aber man kann es erahnen. Die junge Frau, die wenige Einstellungen vor dieser noch in wilder Umarmung mit dem schönen Julien (Paul Hamy) durch ein Hotelzimmer stürzte, ist verschwunden. „Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?“, fragt der Anhalter. Und Nicolas antwortet: „Vor fast einem Jahr.“

Quillévérés hat einen Hang zu derlei Sprüngen. „Suzanne“ hüpft von einem Punkt zum nächsten, oft liegen Jahre dazwischen. Jahre, von denen nicht klar ist, was in ihnen geschah. Der Film agiert an dieser Stelle ähnlich wie seine Protagonistin – wenn Suzanne verschwindet, reißt auch er für einige Jahre ab. Und lässt den Zuschauer in einem Schwebezustand, wie er auch für Suzannes Angehörigen einer ist. Das ist nicht immer leicht auszuhalten. Für keinen. Weder für die Filmfamilie, noch für die Zuschauer.

Suzanne bleibt ein Phantom

Wer Suzanne ist, das erschließt sich eher indirekt. Sie bleibt ein Phantom. Eines mit dünnem blonden Haar, riesigen blauen Augen, fast krankhaft zerbrechlicher Statur. Quillévérés hat den Mut, diese großen Lücken als solche wirken zu lassen. Das macht „Suzanne“ nicht nur zu einem ungewöhnlichen Film, sondern auch zu einem herausragenden.

Dass die Spur des Mädchens immer wieder versanden wird, ist zu Beginn des Films noch nicht abzusehen. Nur, dass es die einer anderen Person bereits ist.

„Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“. Regie: Katell Quillévéré. Mit Sara Forestier, François Damiens, Adèle Haenel u. a. Frankreich 2013, 124 Min.

„Suzanne“ eröffnet mit einer Familienaufstellung Mitte der achtziger Jahre. Die beiden Kinder Suzanne und Maria stecken in Mickymaus-Shirts, während Vater Nicolas mit vollem Haar neben ihnen hockt und eine Zigarette raucht. Nur das Setting ist ungewöhnlich: Das Gras, auf dem die drei sitzen, scherzen und Sandwiches verspeisen, ist Friedhofsgras. Und vor ihnen, da ist ein Grabstein, auf dem der Name Isabelle Merevsky steht, Nicolas’ Ehefrau, Marias und Suzannes Mutter. Die Merevskys wirken wie eine Familie, der Schlimmes widerfahren ist, aber die zusammenhält. Vor allem: zusammenhalten kann. Sprung.

Suzanne in übergroßem Flanellhemd, die Neunziger, noch immer minderjährig, aber schwanger. Eine Ohrfeige von Nicolas folgt. Sprung. Suzanne mit Sohn Charlie. Sprung. Suzanne mit Julien. Eine Liebe, so plötzlich wie rauschhaft. Sowieso, Julien: ein charmanter junger Mann, eigentlich nicht vertrauenswürdig, der aber wirkt wie einer, dem man gern vertrauen möchte. Suzanne vertraut ihm. Und ist erst mal fort.

Eine Szene, Jahre später, eröffnet im Gerichtssaal. Suzanne ist angeklagt, wird verurteilt. Ein Raubüberfall. Als die Schwester Maria (Adèle Haenel) ihr später ein Herzmedaillon mit der Inschrift „Je serai là“ – „Ich werde da sein“ überbringt, beginnt Suzanne vor Glück zu weinen. „Du machst mir Angst, Suzanne“, sagt Maria. Und ahnt vielleicht nur, welche Abgründe an den äußeren Rändern der Liebe lauern.

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