Arnos Außenseiter

GERMANISTIK Setzte er auf ästhetischen Widerstand, um von seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg abzulenken? Eine Tagung über Arno Schmidt und das 18. Jahrhundert

VON KATHARINA TEUTSCH

Das vorsokratische Credo, nur Gleiches könne von Gleichem erkannt werden, ist die bis heute gültige, mal mehr, mal weniger verdeckte Haltung von Schriftstellern, die sich in einen Kanon einschreiben möchten, indem sie den Kanon, in den sie sich einschreiben möchten, mit einem esoterischen Gegenkanon konterkarieren. Klingt kompliziert? Ist es auch. Denn Widersprüche durchziehen dergleichen Selbstverortungen.

Hundert wäre der Arno Schmidt, der Verehrte, in diesem Jahr geworden, ein würdiges Alter, um erinnert zu werden und gar nicht abwegig, dies am Ort der literarisch Ewigen zu tun: „Es muß über alle Maaßen entsetzlich gewesen sein, in Weimar zu leben!!“, heißt es allerdings in einem Rundfunkessay von 1955. Der Arno-Schmidt-Stiftung unter der Kuratel des Dichter-Mäzens Jan Philipp Reemtsma, muss das Aufforderung genug gewesen sein, an den legendären Musenhof zurückzukehren. Philologen aus ganz Deutschland gipfelten drei Tage lang im Goethe-Nationalmuseum, um noch letzte Lesefrüchte aus Schmidts Klassikergarten zu ernten und Blütenlese zu betreiben, ganz nach dem Geschmack des Meisters, der selbst ein gespaltenes Verhältnis zur Germanistik hatte: Kleinbürgerliches Ressentiment gegen den elitären Habitus einer Zunft, der er nie angehören sollte, auf widerständige Weise jedoch anzugehören wünschte.

Das 18. Jahrhundert war Schmidt, der wie kein anderer Nachkriegsschriftsteller sein Geschäft mit vergangenen Epochen machte, Hallraum für das eigene Schaffen. „Autorschaft ist Werkherrschaft“ hatte Heinrich Bosse sein inzwischen selbst kanonisch gewordenes Buch über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, genannt. Gemäß seiner Thesen ginge es jedem writer’s writer neben der Lust am Neuen immer auch darum, einen Platz zu finden im bereits Gedachten und Geschriebenen, das heißt, eine Genealogie zu begründen und eine Prätention anzumelden auf die Nachfolge der eigenen Vorbilder.

Goethe ging ihm auf die Nerven. Wieland lobte er

Doch an wen oder wogegen richtete sich Schmidts Gegenkanon, in dem „Schmerzensmänner“ und „Literaten-Emigranten“ große Auftritte haben? Unter anderem gegen den stumpfen Klassikerkult der Nachkriegszeit. Einerseits war nach 1945 die Romantik mit ihren dionysischen Energien unter den (bis hin zur Louvre-Skandal-Ausstellung „De l’Allemagne“ reichenden) Verdacht geraten, zur politischen Verfallsgeschichte Deutschlands beigetragen zu haben. Andererseits war die apollinische, auf Formen und Ordnungen zielende Klassik genau nach dem Geschmack des restaurativen Kulturverständnisses der Adenauerära. Natürlich erschöpft sich die Literatur dieser Epoche aber nicht in diesen simplen Kategorien.

Zwei emblematische Dichter bilden für Schmidt den Bezugsrahmen für einen komplexeren Literaturbegriff, kurz: für das, was er gelten ließ und das, was bei ihm durchfiel: Wieland, den Schmidt wegen seiner wilden Gelehrsamkeit unendlich bewundert hat. Und Goethe, von dem Schmidt sich immer wieder und in flegelhaft übersteuerter Weise absetzt.

„Bei Goethe ist der Roman keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste“, heißt es in den fiktiven Briefen an den Schwager Werner Murawski, „gewaltsam aneinander gepappte divergente Handlungsfragmente, hineingestreute übel an den Hauptfaden geknüpfte Novellen, Aphorismen, einander widersprechende Erziehungsmaximen, allgemeine Waidssprüchlein (todsicher den ungeeignetsten Personen in den Mund gelegt: was lässt er zum Beispiel das rührende Kind Othilie für onkelhaft weltkluge ,Gedankensplitter‘ in ihr Tagebuch schreiben!“ Goethe ging Schmidt mit seiner Glücksobsession auf die Nerven: „Er kennt nur einen Teil des Lebens und der Welt, und zwar den kleineren.“ Schmidt habe den inkriminierten Klassiker mit solchen Urteilen buchstäblich auf die Couch gelegt, befand Thomas Wegmann (Innsbruck). Diagnose: „Angst vor dem Weltall, dem Leid der Kreatur, dem Tode.“

Anders Wieland. Er steht bei Schmidt für den vom Frömmlertum zum Erotomanen konvertierten Selbstdenker. Das aus eigenen Mitteln geschaffene Neue unter Einbeziehung des Vorhandenen war wiederum ein Ideal, dem kein Nachkriegsautor so sehr anhing wie Schmidt selbst. Wenn er also von den Schmerzensmännern Schnabel, Moritz oder Tieck schwärmt, dann sind das immer auch nachlassbezogene Selbstauskünfte.

Schmidt, so Jan Süselbeck (Marburg), begriff die Zeit als Fläche, auf der alle früheren Autoren „in Liebe und Haß“ als „immerfort mitlebend“ zu behandeln seien. Also arbeitete er sich an seinen „Vorgängern“ ab, als gelte es sich bereits zu Lebzeiten, die Option auf ein Grab auf dem eng belegten Dichterfriedhof freizuschaufeln – mit möglichst erlesenen Nachbarschaften.

Süselbeck hatte aber noch eine pikantere These in petto: Schmidts Identifikation mit den Außenseitern der Literaturgeschichte könnte auch als Versuch gelesen werden, die wenig ruhmreiche eigene Rolle im Zweiten Weltkrieg aufzuwerten durch die Behauptung ästhetischen Widerständlertums. In Schmidts Radioessay über Ludwig Tieck kann man nachlesen: „Denn in Wirklichkeit waren die Romantiker ,gefährliche Leute‘ – vom Gestapo=Standpunkt aus: ausdauernd=labil; peinlich wohlversehen mit der Gabe, den Widersinn von Regierungsmaßnahmen mit dem Widersinn der Kunst zu kontern.“

Jan Philipp Reemtsma, der nahezu die gesamte Tagung mit einem schweren Zahlenkoffer auf dem Schoß verbracht und den strengen Zensor gegeben hatte, trieb es aber erst bei einem der letzten Vorträge die Zornesröte ins Gesicht. Wolfgang Martynkewicz (Bamberg) hatte Schmidts überhebliches Reklamieren einer Geistesaristokratie nämlich in die Nähe des von Stefan George kultivierten Führerprinzips gebracht. Zwar unter Verzicht einer Staatstheorie, aber eben doch unter Berufung auf einen irgendwie zu erwartenden Kulturheiland.

Von solchen Träumen, wie anzüglich sie einem gerade für die Zeit nach dem Krieg auch scheinen mögen, ist heute nicht viel geblieben, konstatierte Ralf Simon (Basel): „Von Dichtern erwarten wir nichts mehr, außer vielleicht Gedichte.“ Von Arno Schmidt noch ein bisschen mehr. Den Rest besorgt die ziemlich forsche Forschung.