Die Brille des Irrealen

ERSTER WELTKRIEG Die Moholy-Nagy Galerie im Collegium Hungaricum zeigt eine Ausstellung zum großen Krieg, die weniger die Tatsachen denn die Wunschbilder, Illusionen und Traumata erkundet

Die Schau vermeidet große Thesen und Setzungen

VON ESTHER SLEVOGT

Man liest ja jetzt viel über den Ersten Weltkrieg. Die Jubiläumsartikel fluten durch die Feuilletons. Allgegenwärtig blickt uns der zarte Gavrilo Princip aus großen Teenageraugen entgegen, dessen tödliche Schüsse auf das österreichische Thronfolgerpaar am 28. Juni 1914 in Sarajevo gemeinhin als der Auslöser des Ersten Weltkriegs gelten.

Eine ganz eigene Annäherung daran hat das ungarische Kulturinstitut „Collegium Hungaricum“ mit seiner Jahresausstellung „Die große Illusion“ versucht, die den ideengeschichtlichen Kriegsschauplatz Mitteleuropa durch „die Brille des Irrealen“ und mithilfe der Künste auf zwei Etagen zu betrachten sich vorgenommen hat.

Dabei vermeidet die Schau große Thesen und Setzungen und schaut eher mit der Lupe auf kleine Ausschnitte und Minimalereignisse, wie die dritte Inszenierung der erst 1915 uraufgeführten Operette „Die Csardasfürstin“ von Emmerich (Imre) Kalman, die im Kriegswinter 1916/17 von ungarischen Kriegsgefangenen in einem sibirischen Gefangenenlager unter schwierigsten Bedingungen realisiert wurde. Eine Operette, die mitten im Krieg noch einmal die schon im Untergang begriffene k. u. k. Welt feierte, deren Illusionskraft bis ins sibirische Straflager ausstrahlte.

In einer anderen Installation verfolgt man in fast quälender Wiederholung den Aufstieg der österreichisch-ungarischen Armee in die Dolomiten (und den Tod), der in einer Blackbox als historischer Schwarz-Weiß-Filmschnipsel im Dauerloop zu sehen ist, konterkariert vom unheimlichen Dauerton tropfenden Tauwassers: jeder Kriegsfrühling taute im Gebirge die Leichen der gefallenen Soldaten auf. Ein schier endloses Gewirr aus Fäden, das sich durch die ganze erste Etage spannt, symbolisiert die Unmöglichkeit, zu irgendeinem Sinn oder einer eindeutigen Lesart dieses Krieges zu finden: „Das organische Denkmal des Ersten Weltkrieges“ hat der ungarische Künstler David Szauder seine mäandernde Installation genannt, deren Fäden immer wieder in Glaskugeln aufeinanderstoßen, die für einzelne Ereignisse des Krieges stehen. Diese Ereignisse (von denen nur ein Bruchteil dem westeuropäischen Durchschnittsbesucher geläufig sein mögen), sind auf (mit den Kugeln) korrespondierenden Kreisen auf dem Boden kurz vermerkt.

Die auf zwei Etagen verteilten, insgesamt sieben Installationen und Arbeiten von Künstlern aus Budapest und Berlin schlagen aber auch argumentative oder atmosphärische Bögen zu philosophischen („Das Unbehagen in der Kultur“) oder geschichtlichen Großkomplexen wie den Pariser Friedensverträgen von Versailles, Trianon und St. Germain, wo zwischen 1919 und 1920 die Landkarte Europas von den westlichen Siegermächten neu geordnet wurde. Damit befasst sich die interessanteste Installation der Ausstellung, „Den Frieden neu verhandeln“. Sie beruht auf einem Planspiel, das Anfang Mai vom Collegium Hungaricum und der Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltet wurde.

Jugendliche aus den Ländern, die damals an den Friedenskonferenzen teilgenommen haben, verhandelten in mehreren Workshops diese Verträge neu, deren Konsequenzen viele betroffene Länder besonders in Osteuropa bis heute umtreiben: die Ukraine zum Beispiel, zu deren Gebiet heute Territorien gezählt werden, die bis 1918 Teil der Donaumonarchie gewesen sind. Aber auch Ungarn, das 1920 mit den Verträgen von Trianon zwei Drittel seines historischen Gebiets an Nachbarstaaten oder neu gegründete k. u. k. Nachfolgestaaten verlor.

Und so sieht man in Videoclips, die sich per Klick auf einer interaktiven Landkarte von Europa mit verschiebbaren Grenzen aktivieren lassen, nun eine junge Britin für die damals besiegten Deutschen verhandeln, junge Ungarn oder Rumänen als US-Präsident Woodrow Wilson oder den französischen Premier George Clemenceau auftreten. Die genauen Ergebnisse des Projekts werden erst in eini- ger Zeit in einem Dokumentarfilm veröffentlicht. Doch schon jetzt kann der Betrachter ein Gefühl für die Brisanz und die Angreifbarkeit mancher damals getroffenen Entscheidung gewinnen. Und die Erkenntnis, dass die nationalen und territorialen Einzelinteressen am besten in einem pluralistisch verfassten Europa aufgehoben sind.

Pädagogisch geht auch die Installation „Hestitieren – Zögern“ der Budapester Künstlerin Timea Anita Oravecz vor: ein Kegelspiel für die Ausstellungsbesucher. Auf die einzelnen Kegel werden unterschiedliche Diktatoren und Politiker der letzten hundert Jahre projiziert. Dann hat man die schwere Bowlingkugel in der Hand, wie Gavrilo Princip 1914 seine Pistole. Auf einem Kegel leuchtet plötzlich Gerhard Schröder auf. Halt! Will man den wirklich treffen? Das zumindest soll man der Logik des Spiels zufolge denken. Denkt man aber nicht, wirft und trifft.

■ Bis 26. 10. im Collegium Hungaricum, Mo.–Fr. 10–19 Uhr, Sa. + So. 14–19 Uhr