Schamlose Kenneth-Anger-Huldigung

EROTISCHES TÊTE-À-TÊTE Yann Gonzalez’ Langfilmdebüt „Begegnungen nach Mitternacht“ kommt ohne Umschweife auf den Punkt

Ein einsames Haus im Wald. Eine klandestine Abendgesellschaft, die für ein erotisches Tête-à-Tête an diesem abgeschiedenen Ort zusammengekommen ist. Geladen haben: Ali, ihr goldgelockter Jüngling Matthias, stilsicher mit Augenklappe (was es mit dem Accessoire auf sich hat, wird sich im Lauf des Films herausstellen), und die androgyne Gouvernante Udo, ein schillerndes pansexuelles Geschöpf. Dem halb erfrorenen Matthias holt sie/er gleich zu Beginn einen runter. Reibung erzeugt Wärme. Als Gäste erwartet das dekadent lustwandelnde Trio: die Schlampe, den Hengst, die Diva und den Teenager. Yann Gonzalez’ Langfilmdebüt „Begegnungen nach Mitternacht“ kommt ohne Umschweife auf den Punkt. Schon die Eröffnungssequenz ist eine schamlose Kenneth-Anger-Huldigung: ein verchromtes Motorrad in verregneter Nacht, die schöne Ali gerettet von ihrem motorisierten Ritter. Im Rückspiegel taumelt ein Zombie hinterher.

Solche unterschiedlichen Register zieht Gonzalez binnen weniger Minuten. Kein Wunder also, dass er international bereits als neues Wunderkind des „Queer Cinema“ gefeiert wird: das Bindeglied zwischen dem ewig jungen Wilden Gregg Araki und dem ekstatischen Melancholiker Xavier Dolan. Formal ergibt sich daraus eine Schnittmenge aus Achtziger-Jahre-Ästhetik und Camp-Reminiszenzen. Der expressive Farbcode changiert zwischen Stahlblau (die Nacht, die Einsamkeit) und Tiefrot (Leidenschaft, Blut), der Electro-Pop von M83 appelliert dazu an die Begehren der Protagonisten: sehnsuchtsvoll, bedingungslos und immer am Rande zum Kitsch. Die Jukebox am entlegenen Ende des Raumes, in dem „Begegnungen nach Mitternacht“ spielt, wandelt die disparaten (und nicht minder desperaten) Gefühle der Protagonisten in rauschhafte Musik um.

Worauf dieses Kammerspiel hinausläuft, ist klar. Möchte man annehmen. „Hengst“ Éric Cantona, der schon als Fußballer Rüpel und Schöngeist zugleich war, holt als Erstes seinen Schwanz raus und lässt ihn von den Damen und Herren bewundern. Aber schon bald nimmt die vermeintliche Orgie eine verblüffende Wendung. Denn die Suche nach zwanglosem Sex ist nicht das Einzige, was die Figuren verbindet. In der Anonymität der notgeilen Zweckgemeinschaft beginnen sich die Anwesenden vorsichtig füreinander zu öffnen: erst körperlich, später auch seelisch. Gonzalez stülpt das Verborgene, Unbewusste ihrer Begehren nach außen: inzestuöses Verlangen, einen Todestrieb oder die Russ-Meyer-Fantasie, sich von Dominatrix Béatrice Dalle sexuell erniedrigen zu lassen (eine schöne Referenz an „Ilsa, She-Wolf of the SS“). Die Nebenwirkungen dieser Übertragungsleistung besitzen eine durchaus trippige Qualität.

Gonzalez hat in Interviews John Hughes’ High-School-Film „Breakfast Club“ als Inspirationsquelle genannt. Doch da sind noch Spuren zu den schwülstigen Erotografien eines Jean Rollin und Dario Argentos psychedelischen Wahnfantasien. Dabei folgen Gonzalez’ „sexual politics“ keinen Normen und Regeln. Auch wenn „Begegnungen nach Mitternacht“ wohl nur aus den Erfahrungen eines „Queer Cinema“ hervorgehen konnte, plädiert der Film für offene Formen sexueller Selbstverwirklichung.

ANDREAS BUSCHE

■ „Begegnungen nach Mitternacht“. Regie: Yann Gonzalez. Mit Kate Moran, Niels Schneider, Nicolas Maury u. a. F 2013, 91 Min.