Barocke Wolken

AUSSTELLUNG Im Museum für Fotografie ist eine Langzeitstudie des Fotografen Michael Ruetz zu sehen. „Die absolute Landschaft“ zeigt das immer gleiche Motiv in seiner bayerischen Wahlheimat in unterschiedlichen Momenten

VON BRIGITTE WERNEBURG

Die Anekdote, die der Fotograf Michael Ruetz bei der Pressekonferenz zu seiner Ausstellung im Fotomuseum vom gelernten Vernissagengänger erzählt, wie er die im Aufbau befindliche Ausstellung mal schnell in 20 Sekunden überblickt und sagt: „Na, dafür sind Sie ja viel gereist“, die Anekdote ist wirklich gut. Denn für die Bilder, die nun im Haus der Helmut Newton Stiftung hinter dem Bahnhof Zoo zu sehen sind, ist Ruetz gerade nicht gereist, sondern sesshaft geworden. Irgendwo im Alpenvorland, auf schöner Höhe mit weitem Blick über die Landschaft.

Ausschließlich diesen Blick zeigt „Die absolute Landschaft“. 23 Jahre lang, von Ende Oktober 1989, als der 1940 in Berlin geborene Fotograf das Haus am Berg erwarb, bis Anfang Februar 2012, als er es wieder aufgab, hat ihn Michel Ruetz regelmäßig fotografiert. Doch wenn man nun die Aufnahmen an den Wänden und Stellwänden im Kaisersaal in der Jebensstraße abschreitet, möchte man dem Vernissagengänger unbedingt recht geben: Es fühlt sich an, als sei hier die ganze Welt und nicht (vermutlich) nur das Chiemgau überblickt worden.

Und es ist dazu nicht nur die von Bergen umgrenzte Landschaft eines weit ausgedehnten Tals, die man überblickt, die verstreut zwischen Wiesen und Wäldern liegenden kleinen Weiler und Gehöfte oder das Wasser, das am linken Bildrand aufblitzt: Es ist vor allem auch der Himmel. Barock türmen sich die Wolken im Sonnenlicht auf, und dann fahren aus einer bleigrauen und bleischweren Fläche dramatisch die Blitze hernieder, bis die erste Morgenröte den blank geputzten, leeren Luftraum zart rosa färbt – und irgendwann Landschaft und Firmament von dichten Nebeln verschlungen werden.

Der stets akzentuierte Himmel macht Ruetz’ Langzeitbeobachtung zu einem entschiedenen Gegenentwurf der Langzeitdokumentationen von Bernd und Hilla Becher und der Becherschule insgesamt. Sie kennen ja sämtlich keinen bzw. nur den bedeckten Himmel und damit auch nur eine einzige Art diffusen Lichts, in dem sich die Aufnahmemotive deutlich abzeichnen. Michael Ruetz’ Langzeitstudie „Timescape 817“, wie die im Fotomuseum gezeigte Serie heißt, handelt dagegen von den unendlichen Erscheinungsformen des Lichts ebenso wie von denen der Landschaft und des Himmels. Es war deshalb zunächst der Titel „Licht und Zeit“ erwogen worden, als der Steidl Verlag 2008 einen Ausschnitt aus der Timescape-Serie in Buchform publizierte. Letztlich hieß der Bildband „Eye on Infinitiy“ und hielt damit Anschluss an die Vorgängerpublikationen „Eye on Time“ (Berliner Stadtansichten über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten) und „Eye on Eternity“ (Romblicke über einen ähnlich langen Zeitraum).

Seit den 1970er Jahren also beschäftigt sich Ruetz damit, an bestimmten Orten die Veränderungen in unserer alltäglichen Lebenswelt fotografisch sichtbar zu machen. Dazu bestimmte er über 600 Beobachtungspunkte in Deutschland, die er in regelmäßigen zeitlichen Abständen immer wieder aufsucht, um dort unter möglichst gleich bleibenden Bedingungen zu fotografieren. Der genau eingegrenzte und „Timescape 817“ genannte Landschaftsausschnitt im Voralpenland ist einer dieser Orte. 2.720 Aufnahmen schoss Ruetz von den übereinanderliegenden Balkonen seines Hauses. Wobei „schießen“ nur ein bedingt richtiger Ausdruck ist, denn unter den Aufnahmen sind viele Langzeitbelichtungen. Im Extremfall war der Kameraverschluss bis zu 14 Stunden offen.

Weil so lange Belichtungszeiten aber nicht mehr zu messen sind, standen auf einem Balkon, wie Michel Ruetz im Fotomuseum berichtete, bis zu 14 mit unterschiedlichen Filmen bestückte Großbildkameras, die alle unterschiedlichen Belichtungszeiten aufwiesen: „Das hat eine Unmenge von Material verschlungen.“ 60 großformatige Aufnahmen werden nun präsentiert. Bei den liegenden Querformaten handelt es sich nicht, wie man meinen könnte, um Panoramaaufnahmen, die den menschlichen Blickwinkel übertreffen. Sie haben nur einen Bildwinkel von 100 Grad, was unserem Blickfeld entspricht, wie Ruetz erklärt.

Formen und Stimmungen

Das Format mag unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht übersteigen, dafür erschöpft es sie aber bestimmt. Man erblickt einen atemberaubenden Reichtum in diesen Bildern. So viele Formen, Stimmungen, Tages- und Jahreszeiten, so viele Nebel, aber auch eiskalt klirrende Genauigkeit in den Winterbildern, in denen jedes Detail minutiös gezeichnet ist. Der Winter legt das Menschengemachte der Landschaft offen, die in der üppigen Flora des Sommers, aber auch den schweren Herbstnebeln als reine, freie Natur erscheint: selbst dort, wo einer der Bäume des Waldes ein gelber Stahlkran ist. Wir sehen aber auch die Pracht der fotografisch konstruierten Natur, insofern auf dem Abzug alle Blitze eines Gewitters von vielleicht einer Stunde Dauer festgehalten sind oder alle Raketen einer Silvesternacht.

Eine Ausstellung wie „Die absolute Landschaft“ kann einen überzeugen, ein Freund des Museums für Fotografie zu werden. Auch die Staatlichen Museum, konkret die Kunstbibliothek, der das Fotomuseum zugeordnet ist, können viele Projekte nur dank des finanziellen Engagements ihrer regelmäßigen Besucher und Nutzerinnen realisieren.

Welche interessanten und selbst hochkarätig sammelnden Freunde und Freundinnen das Museum in der Jebensstraße schon für sich gewonnen hat, ist derzeit im westlichen Fürstensaal zu erfahren, in dem seit Neuestem kleine Kabinettausstellungen parallel zur großen Schau im Kaisersaal gezeigt werden können. Der Trend geht zur Zweitausstellung. Mit „Ausschnitte“ gratulieren also derzeit seine Freunde dem Fotomuseum zum zehnjährigen Bestehen. Dafür durfte die Kuratorin Anne Ganteführer-Trier aus den persönlichen Lieblingsbildern der Förderer eine Auswahl treffen.

Die Aufnahmen stammen aus den Jahren 1865 (Anonym, Piazza della Bocca della Verità, Rom) bis 2012 (Andreas Mühe, Soldat am Obersee, Obersalzberg) und liefern damit einen Überblick über fast die gesamte 175-jährige Geschichte der Fotografie ebenso wie über ihre verschiedenen Genres wie Porträt, Stillleben, inszenierte und konzeptuelle Fotografie, Landschafts-, Architektur-, Straßen-, Mode- und Pressefotografie.

Neben schon kanonischen Werken überrascht die Schau vor allem mit wenig bekannten Arbeiten berühmter Fotografen, etwa mit den Detailansichten der „Studien zum Menschengesicht“ von August Sander. Überraschend, auch plötzlich Leni Riefenstahls Olympioniken von 1936 gegenüberzustehen.

Neben drei ungenannten Privatsammlungen aus Köln und Berlin haben die Sammlungen Uta und Wilfried Wiegand, Wemhöner, Hans und Uschi Welle, Petra Rietz, Platen, Ulla und Heiner Pietzsch, Jeane von Oppenheim, Editha Hahn und Rudolf Kicken zur Ausstellung beigetragen. Rudolf Kicken, dem kürzlich verstorbenen Galeristen und Gründungsmitglied des Fotomuseums, ist die Schau denn auch gewidmet.

■ Bis 5. Oktober, Museum für Fotografie, Di., Mi., Fr. 10–18 Uhr, Do. 10–20 Uhr, Sa. + So. 11–18 Uhr