Das hat er nicht gewollt

SALZBURGER FESTSPIELE Katie Mitchell malt ein schlichtes Tafelbild mit „The Forbidden Zone“, Georg Schmiedleitner besänftigt Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“

VON UWE MATTHEISS

Helmut Qualtinger hat weggeschaut und geschwiegen. Das ist auch besser so. Nach der Premiere von Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ bei den Salzburger Festspielen hatte ein Wiener Theatertreibender im Publikum mit einem lauten Stoßgebet auf sich aufmerksam gemacht: Der heilige Qualtinger – zu Lebzeiten und solistisch wortmächtiger Interpret dieser monumentalen Theaterjeremiade über die Katastrophe des Ersten Weltkriegs – möge „obe“ (herunter) schauen.

Aber warum ruft einer gleich den Himmel an beziehungsweise einen dort vermuteten Verstorbenen? Es ist doch nur Theater. Für die Koproduktion der Festspiele mit dem Wiener Burgtheater hat Georg Schmiedleitner einen dreihalbstündigen Bilderbogen im Salzburger Landestheater recht kurzweilig arrangiert. Leicht konsumierbar und doch mit aufklärerischem Anspruch – 100 Jahre Erster Weltkrieg und so.

Schmiedleitner genoss zu Recht einen Vorschuss an Vertrauen, hatte er dieses Projekt doch im fortgeschrittenen, aber unausgegorenen Zustand für den fristlos entlassenen Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann übernommen. Vom internen Anforderungsprofil her betrachtet kann der Abend auch als gelungen gelten. Das Theater, unter dem sich gerade die Erde abgrundtief aufgetan hat, versucht wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Ein Triumph der Resistenz und der Resilienz des Apparats.

„Die letzten Tage der Menschheit“, das 800-Seiten-Stück, an dem Kraus von 1915 bis 1922 geschrieben hat, ist das Opus magnum des großen Einsamen und Meisters der prophetischen Rede in der neueren deutschen Literatur. Die literarische Verarbeitung des epochebrechenden Weltkriegswahns speist sich aus dem Widerspruch der produktiven und zugleich zerstörerischen Kräfte des technischen Zeitalters auf der einen Seite und einer „Kultur“, die diese Kräfte weder beschreiben, begreifen noch lenken kann auf der anderen. Die Kritik der Sprache ist Kraus’ Kritik der Dinge. Das hat durchaus Anklänge an barocke Welttheaterentwürfe. Nur wird hier nicht wie beim Salzburger Festspielgründer Hugo von Hofmannsthal, einem von Kraus' vielen Intimfeinden unter den Zeitgenossen, versucht, wieder religiösen Sinn in die Kunst einzuführen. Was bleibt, ist die Dummheit: „Ich habe es nicht gewollt“, schallt es zuletzt von oben herab.

Kraus ist einer der Ersten im Drama, der systematisch mit „O-Tönen“ arbeitet, „die grellsten Erfindungen sind Zitate“, heißt es. Er baut eine Klangmauer aus idealistischem Entschlossenheitsgeschwafel, Innerlichkeitspathos und alltäglichem Geschwätz. Zwei Kaiser treten auf, Wiener Bourgeoisie im Kaffeehaus, der Optimist (Georg Bloéb) heideggert herum, schon bevor Heidegger die Lateinschule verlassen hat. Der Nörgler (Dietmar König), Kraus’ Alter Ego, protestiert ungehört. „Wilhelm Zwo“ (Bernd Birkhahn) ist eine knatternde Witzfigur ebenso wie der schenkelklopfende Ludwig Ganghofer (Christoph Krutzler). Die Welt als Vorstellung willenloser Sprechmaschinen.

Die Depperten

Ein erstrangiges Burgtheaterensemble spielt daraus ein Best-of-Kabarett. In dieser unpolitischsten aller Bühnenkünste erfährt man immer nur, dass die Depperten deppert sind und nie, warum. Wenn's nicht mehr weitergeht, kommt Blasmusik. Nur vereinzelt Unerwartetes, Ambivalentes, wie bei Dörte Lyssewskis Sicht auf die kriegslüsterne Reporterin Alice Schalek. Elisabeth Orth schaut man in vielen kleinen Rollen gern zu, egal was gespielt wird.

Das oberflächliche Gelingen ist mit Verkleinerung erkauft. Mit diesem Monument der eigenen Geschichte aber müsste sich Theater aufs Spiel setzen, gerade in der Krise in den eigenen Abgrund springen, sich selbst entzünden, um in der Welt wieder virulent zu werden. Stattdessen wird in Lohnveredelung die Saison vorbereitet. Von Hofmannsthals „Das Salzburger Große Welttheater“ zum Großen Stadttheater ist es nicht weit. So wirkt die neue Burgtheater-Spardiät.

Die tags darauf folgende Produktion ist schnell erzählt. Mit „The Forbidden Zone“ von Duncan Macmillan macht Katie Mitchell auf Clara Immerwahr aufmerksam, einer Forscherin mit Gewissen, die verheiratet war mit Fritz Haber, einem Forscher ohne Gewissen. Als er für den Gaskrieg arbeitete, erschoss sie sich in stillem Protest. Mitchell lässt die Szenen auf der Bühne mit tragbaren Videokameras aufnehmen und fügt daraus in der Projektion ein bewegtes Tafelbild, das moralisch wertvoll und ästhetisch trivial ist. An der Berliner Schaubühne kann man es demnächst anschauen.