Ausdruck einer Energie

KUNST Spuren einer körperlichen Verausgabung sind die Linien ihrer Bilder, die Una H. Moehrke derzeit in der Moritzburg in Halle zeigt

Darf man sich heute der Frage nach dem Schönen überhaupt noch stellen? Ja, man muss!

VON RONALD BERG

Es ist eine schwierige Aufgabe, etwas zu beschreiben, was „an sich“ nichts bedeutet. Linien zum Beispiel, die nichts abbilden. Die Bilder von Una H. Moehrke bestehen vor allem aus solchen Linien auf Leinwand oder Papier. Dazu kommen Farbtupfer oder kleinere Farbflächen hier und da. Manchmal eine verwaschene, silbrige Leuchtfarbe als Hintergrund. Aber diese Elemente spielen nur eine dienende Rolle. Bei den geraden, kreuz und quer im Bild liegenden oder auch mal horizontal parallelisierten Balken kann man sich schon nicht so sicher sein. Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Balken um eine besondere Abart der Linie. Ansonsten gibt es rund-geschwungene Linien, zarte Liniengespinste, dicke und dünne, faserige oder feste Striche. Manches Bild sieht nach Landschaft aus, in einem anderen könnte man die Umrisse eines Kopfes erblicken.

Intendiert sind solche Ähnlichkeiten nicht. Denn Una Moehrkes Linien ahmen nichts nach, was in der Natur gesehen werden könnte. Dass heißt aber nicht, dass diese Bilder ohne Bedeutung wären. Natürlich stehen sie für etwas, sonst wären sie nicht in einem Kunstmuseum wie der Moritzburg in Halle/Saale ausgestellt.

In Petersburger Hängung besetzen Moehrkes Linienbilder einen Raum seitlich der Moderne-Sammlung in der alten Bischofsburg. Cornelia Wieg, Kustodin an der Moritzburg und Kuratorin der Ausstellung, hat zu den Moehrke-Bildern noch ein anderes gehängt. Es ist Philipp Otto Runges „Der Morgen“. Auf dem 1803 entstanden Kupferstich des romantischen Malers finden sich in der streng symmetrischen Komposition aus Pflanzenornamenten und etlichen Putten auch seltsam amorphe Liniengebilde. Sie bilden im Hintergrund die Wolken.

Runges Werk zeigt beispielhaft, dass die Linien, um die es in Moehrkes Arbeit seit nunmehr drei Jahrzehnten geht, schon lange in der Kunstgeschichte herumgeistern. Als Kontur von gezeichneten Wolken etwa oder als Scheidelinie zwischen Hell und Dunkel im Horizont einer Landschaft oder im summarischen Umriss von gezeichneten Baumkronen etwa.

Una H. Moehrke hat ihre Linien durchaus mit Bestimmtheit gesetzt. Das heißt aber nicht, sie wären Resultat eines vorgefassten Sinns, der nur noch ins Bild zu übersetzen gewesen wäre. Denn erst im Nachhinein wird Moehrke klar, ob ihre Linien Bestand haben. Die Prüfung erfolgt mit dem Auge und dessen Geschmackssinn. Kurzum: Es geht bei Una H. Moehrke um die Frage der Schönheit oder um die Suche und produktive (Selbst-)Erforschung, wie, wann und warum das Schöne statthat. Man verwechsle das nicht mit dem bloß Hübschen, Dekorativen oder Gefälligen! Eine mögliche Antwort liegt in der „Line of Grace“, wie Cornelia Wieg die Ausstellung überschrieben hat. „Line of Grace“ ist eine Prägung des Englischen Malers und Karikaturisten William Hogarth, der im 18. Jahrhundert die vermeintliche Lösung für die Frage nach der Schönheit in der Kunst gefunden zu haben glaubte, indem er eine gewundene, sich wellende Schlangenlinie zum Inbegriff des Anmutigen erklärte.

Moehrkes Linien folgen dem Hogarth’schen Rezept allerdings nicht oder nur sehr bedingt. Bei ihr geht es nicht in erster Linie um den äußeren Anschein von Grazie, sondern um den aus dem Inneren stammenden Ausdruck einer Energie. Moehrkes Linien sind ja zuerst Spuren einer körperlichen Verausgabung. Es geht bei Moehrke um Präsenz, nicht um Repräsentation. Ihre Linienbilder handeln von etwas Wesentlichem in der Kunst, das gleichwohl etwas ist, das in anderer Gestalt auch beim Fußball auftaucht, und dann „schönes Spiel“ heißt, oder in der Musik, wo Töne sich zu Harmonien verbinden. Um das Schöne zu hören oder zu sehen braucht es kein theoretisches Rüstzeug.

Aber darf man sich heute der Frage nach dem Schönen überhaupt noch stellen, da die zeitgenössische Kunst auf Schönheit anscheinend verzichten will? Ja, man muss! Insofern ist die Ausstellung der Bilder Moehrkes, seit 1994 Professorin an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle, ein wunderbares Beispiel dafür, welche „schönen“ Entdeckungen die Provinz bereithalten kann. Die Voraussetzungen für solche, im besten Sinne eigenartigen Perspektiven sind auf der Moritzburg besonders gut. Mehr als 500 Jahre Baugeschichte hat die Burg zu bieten, von den Anfängen um 1500 bis zur modernen, aber respektvollen Sanierung der Teilruine durch das spanische Büro Nieto Sobejano Arquitectos 2008. Dazu kommen Sammlungen von der mittelalterlichen Plastik über die klassische Moderne bis zur zeitgenössischen Kunst, auch Kunsthandwerk und Design und einiges zur Kunst in der DDR fehlen nicht. Die Burg bietet also fast unausschöpfliche Möglichkeiten zu einer eigenen Handschrift, zu überraschenden Kombinationen und erhellenden Vergleichen.

Der erst seit Anfang des Jahres amtierende neue Direktor der Moritzburg, der 36-jährige Thomas Bauer-Friedrich, hält sich allerdings inhaltlich bislang bedeckt. Einzig konkret wird er bei der fatalen Entscheidung, die spektakuläre Kuppelhalle des Museums als Depotraum umzunutzen. Die Lösung sei nur temporär, wird aber die Moritzburg auf unbestimmte Zeit Ausstellungsfläche und Attraktivität kosten. Schade. Leider wurden schon zu lange die immensen Potenziale des Museum vernachlässigt. Unkonventionelles und Eigenes wie die Ausstellung mit Moehrke könnten für das Museum Modell sein.

■ Bis 13. August, Kunstmuseum Moritzburg, Halle/Saale