Sanft gestaltete Verlierer

COMIC Das Berlin der neunziger Jahre spielt eine wichtige Rolle in der „Lauter Leben“ von Nicolas Woulters und Mikael Ross. Hier geraten zwei die Hauptfiguren an einen Wendepunkt in ihrer Vita

Sie sind gebrochen, und sie zerbrechen. Mal an der Welt, mal an sich selbst

VON JAN TÖLVA

Die Geschichte, die der Autor Nicolas Wouters und der Illustrator Mikael Ross in ihrer Graphic Novel „Lauter Leben“ erzählen, beginnt in Brüssel und endet am Meer. Ihren entscheidenden Wendepunkt erfährt sie in Berlin, genauer im wilden Berlin der Neunziger, als in der neuen Hauptstadt des größeren Deutschlands tatsächlich mehr möglich war als irgendwo sonst in Europa.

Mit wenigen Farben, starken Kontrasten und dynamischem Zeichenstil erzählen Wouters und Ross eine Geschichte von zwei Freunden, die verschiedener kaum sein könnten. Thomas ist schüchtern und viel zu vernünftig. Martin dagegen wäre in vergangenen Jahrhunderten als waschechter Dämon durchgegangen. Heute spricht man wohl eher von ADHS, doch für die Art und Weise, wie die Menschen ihn ansehen, macht das kaum einen Unterschied.

Es ist aber auch eine Geschichte, die von der immer neuen Suche nach dem eigenen Selbst erzählt und davon, wie wir oft nur die Wahl haben, entweder uns selbst zu verlieren oder aber verloren zu gehen in den Wogen des Alltags. Für Martin und Thomas führt der Weg zu sich selbst über die Brüsseler Punkszene der achtziger Jahre. Sie tauchen ab in den pogenden Mob vor der Bühne und tauchen wieder auf mit einem völlig neuen Gefühl davon, wer sie sind und wer sie sein wollen. Dann trennen sich ihre Wege. Martin zieht es immer tiefer in die Subkultur; Thomas zurück zur bürgerlichen Existenz.

Als sie sich Jahre später wiedertreffen in Berlin, wo Martin mittlerweile lebt, ist schon mit bloßen Augen zu erkennen, dass sie sich in verschiedene Richtungen entwickelt haben. Neben dem glatzköpfigen, noch immer wie von einer dunklen Macht getrieben wirkenden Martin sieht Thomas aus wie der Prototyp eines verspießten Studenten, der schon sehr bald nur noch spätabends und angeschwipst davon erzählen wird, wie es damals war, als er noch glaubte, die Welt würde nur darauf warten, von ihm aus den Angeln gehoben zu werden. Die Idylle aus Kleinfamilie und Rotwein zerbricht irgendwann, so wie Martin daran zerbricht, dass er nie aufgehört hat zu versuchen, die Welt aus ihren Angeln zu heben. Als sie sich wiedersehen, wird beiden klar, dass sich ihrer beider Leben, wenn auch auf unterschiedliche Art, völlig falsch entwickelt haben, seit sich ihre Wege getrennt haben damals in Berlin.

Wo auch sonst? Das Berlin der Neunziger war die Stadt gewordene Möglichkeit. Wenn etwas hier nicht ging, ging es gar nicht. Das Punkkonzert, bei dem Thomas und Martin wieder aufeinander treffen, findet statt im alten Reichsbahnbunker nahe dem Bahnhof Friedrichstraße. Tatsächlich fanden dort eher Technopartys als Punkkonzerte statt, doch passt er als Symbol für den Wandel viel besser als die meisten tatsächlichen Punkschuppen der Neunziger. In vielen von denen gehen nämlich noch die Nietenjacken ein und aus. In dem Bunker hingegen ist heute eine Sammlung zeitgenössischer Kunst untergebracht. Wer sie sehen will, muss sich vorher anmelden – und zahlen.

Mikael Ross hat allerdings eher das Optische gereizt. „Es ist einfach ein furchtbar düsterer, klaustrophobischer Raum“, erzählt er. „Dagegen wirken die realen besetzten Häuser geradezu pittoresk-lieblich.“ Das Berlin, das er zeigt, ist also durchaus ein stilisiertes und in gewisser Weise ein idealisiertes, und doch geht es ihm nicht darum, das Vergangene zu romantisieren. Das machen andere schon mehr als genug. „Aber dieselben Leute wohnen dann meistens auch gern in ihrer Wohnung mit Zentralheizung im Prenzlauer Berg“, meint Ross und liegt wohl nicht weit daneben damit.

Sein Blick auf Berlin ist liebevoll, aber doch auch einer, der zu kritischer Distanz fähig ist. Ähnlich ist es auch bei den Hauptfiguren in „Lauter Leben“. Sie sind mit sanfter Hand ausgestaltet worden von Ross und Wouters, und doch wurden sie nicht idealisiert oder zu allzu simplen Archetypen überformt. Sie sind gebrochen, und sie zerbrechen. Mal an der Welt, mal an sich selbst und ihren Ansprüchen an sich.

Auf den letzten Seiten weiß man nicht, ob das Ende ein gutes ist oder eines mit Schrecken oder beides. Vor allem aber spürt man, dass das Wichtigste nirgends direkt ausgesprochen wurde. Es wurde jenseits der Sprechblasen versteckt – so wie es sich für etwas wirklich Wertvolles gehört.

■ Nicolas Wouters (Text), Mikael Ross (Zeichnung): „Lauter Leben!“. Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant Verlag, Berlin 2014, 104 Seiten, 19,95 Euro