„Die Künstler haben Carte blanche“

JUBILÄUM Im Jahr 1984 war in Europa die Gründung einer Firmenstiftung noch eine Seltenheit: Die Pariser Fondation Cartier feiert ihren 30. Geburtstag

■ arbeitet unabhängig von der Luxusmarke für Uhren und Schmuck. Die 1984 gegründete Stiftung ist der größte nichtkommerzielle institutionelle Sammler zeitgenössischer Kunst in Frankreich. Ihre Aufgabe sieht die Stiftung darin, herausragende AkteurInnen der zeitgenössischen Kunst zu fördern und zu entdecken. Ein wichtiger Programmpunkt der Stiftungsarbeit ist daher die Vergabe von Aufträgen an KünstlerInnen, die teils schon bekannt, teils aber erst am Anfang ihrer Karriere stehen. Das 30-jährige Bestehen wird mit Konzerten und der Ausstellung „Vivid Memoires“ gefeiert, die noch bis 21. September läuft.

■ Raymond Hains, James Lee Byars, Nan Goldin oder David Lynch sind einige der Künstler, die die Fondation bis heute gezeigt hat. Hervè Chandès, seit 1994 Direktor der Fondation Cartier, begann dort 1985, nach seinem Studium, als Assistent. Der französische Stararchitekt Jean Nouvel baute 1994 das Haus der Stiftung am Boulevard Raspail, Nr. 261, im 14. Arrondissement von Paris.

INTERVIEW RUDOLF BALMER

taz: Herr Chandès, warum ist der 30. Geburtstag der Fondation Cartier ein Anlass zum Feiern?

Hervé Chandès: Das eigentliche Ereignis ist das kontinuierliche Bestehen der Fondation Cartier, ihre Lebendigkeit, bei ständiger Erneuerung des Programms, und das seit 30 Jahren. Als sie gegründet wurde, lag das keineswegs im Trend. Das Interesse an zeitgenössischer Kunst war auf einen kleinen Kreis beschränkt. Die Stiftung ist heute eine Institution und hatte von Beginn an eine Pionierrolle. Diese Rolle definieren zwei, drei Ideen oder Grundwerte, die der Fondation Cartier ihre unverwechselbare Identität geben und immer noch gültig sind. Wir arbeiten transversal und beschränken uns nicht auf einzelne Kunstgattungen. Die Künstler haben weitgehend freie Hand und wir kaufen nur Werke, die in unserem Haus ausgestellt wurden. Das war der Auftrag und dem sind wir treu geblieben.

Was veranlasste das Unternehmen Cartier vor 30 Jahren, eine Kunststiftung dieser neuen Art zu gründen?

Cartier wollte näher an den zeitgenössischen kreativen Köpfen und Szenen dran sein. Nicht nur als Mäzen, sondern um selbst diese Epoche intensiver zu erleben. Es ging um mehr als nur Neugierde. Die damalige Firmenleitung und der Gründer der Stiftung, Alain Dominique Perrin, waren der Meinung, dass es für Cartier unverzichtbar sei, mit der zeitgenössischen Kunst und Kultur einen permanenten Dialog zu führen. Natürlich ist Schmuckdesign ein anderes Feld, aber als Designer kann man die Inspiration auch in anderen Kunstformen finden.

Nun ist der Pariser Kunstmarkt und das Kulturleben insgesamt nicht gerade klein. Wie unterscheiden Sie sich von anderen Institutionen? Inwiefern ist die Fondation Cartier nicht ein „Mini-Centre Pompidou“ oder eine Konkurrenz zum Palais de Tokyo?

Zum einen sind die Zielsetzungen sehr verschieden, und damit auch die Inhalte. Wir wollen unsere eigene Geschichte schreiben. Wir definieren uns nicht als Museum, aber wir müssen uns auch nicht um jeden Preis von einem Museum unterscheiden. Im Zentrum stehen für uns die Künstler mit ihrer Arbeit. In der ersten Phase, als sich die Fondation während fast zehn Jahren in Jouy-en-Josas außerhalb von Paris befand, hatten wir Ateliers für die Künstler. Wir haben sie aus aller Welt eingeladen, auch aus Ländern und Regionen wie China oder Afrika, die in der damaligen Kunstszene keine nennenswerte Rolle spielten. Sie hatten die Möglichkeit, in den Ateliers über Monate hinweg zu arbeiten und zu leben.

Diese Ateliers gibt es jetzt nicht mehr?

Ja, diese Räume werden nun durch die Aufträge der Fondation Cartier bei den Künstlern ersetzt. Das ist der Schwerpunkt unserer Aktivitäten geworden. Für die Aufträge gibt es keine einengenden Vorgaben. Die Künstler sind frei und haben „Carte blanche“. Sie überlegen sich ein Konzept zu einem vorgegebenen Thema, die Leitung segnet das ab und stellt bei Bedarf den Raum und das Geld für die Umsetzung zur Verfügung. Oft wird eine ganze Ausstellung, ausgehend von einem leeren Blatt Papier, in der Fondation entworfen und realisiert, die so zum Atelier wird. Und was wichtig ist: Wir sammeln keine Objekte von außerhalb. Sie entstehen im Haus selbst. Ein zweiter, wichtiger Punkt ist, dass wir mit thematischen Ausstellungen quer zu den Gattungen und Techniken arbeiten. Angefangen haben wir mit dem Thema „Geschwindigkeit“. Dann gab es noch Ausstellungen zum Schamanismus, zur Mode, zur Mathematik oder die Zusammenarbeit mit Filmemachern.

Das Jubiläumsprogramm prunkt mit bekannten Namen. Versteht sich die Fondation Cartier denn auch als Brutkasten für innovative Tendenzen?

Wir laden immer wieder Leute ein, die dem Publikum völlig unbekannt sind, laden aber auch sehr bekannte Künstler ein. Diese Mischung erlaubt es uns, die weniger bekannten einem breiteren Publikum vorzustellen. Das ist nicht einfach, aber wir halten daran fest. Ein anderes Prinzip ist die strikte Trennung zwischen der Fondation mit ihrem Programm und dem kommerziellen Bereich des Unternehmens Cartier, mit dem die Künstler der Fondation nichts verbindet. Die Stiftung hat ein Jahresbudget, mit dem sie auskommt, es gibt also keine Reibungspunkte.

Sie haben auch eine bedeutende Sammlung. Was ist das Ziel dieser Kollektion?

Auch hier möchte ich nochmals die Bedeutung der Kontinuität unterstreichen. Wir kaufen praktisch nichts außerhalb unserer Ausstellungen. Das heißt, die Sammlung besteht aus Werken, die wir für die Fondation in Auftrag gegeben haben. Die Künstler bilden so eine Gemeinschaft mit uns. Das zeigt auch der erste Teil unserer Jubiläumsausstellung mit all den Namen, die Sie aus dem Programm der 30 Jahre kennen. Alle Werke, die bis September zu sehen sind, gehören unserer Sammlung. Sie erzählen von unserer Zusammenarbeit mit den Künstlern. Wir sammeln unsere eigene Geschichte.

Sind die in Auftrag gegebenen Werke dann automatisch im Besitz der Fondation Cartier?

Nichts ist bei uns „automatisch“. Wir funktionieren nicht so. Der einzige Reflex bei uns ist es, neue Fragen zu stellen. Es ist also nicht so, dass eine Auftragsarbeit jedes Mal in die Sammlung kommt. Wir finanzieren zwar die Entwicklung und Produktion, aber das Werk gehört immer noch dem Künstler. Es gehört erst dann der Fondation Cartier, wenn diese es kauft. Ausgehend von meinen Vorschlägen entscheidet darüber eine Kommission aus zwanzig Personen, die sich ein Mal pro Jahr trifft.

Manche Ihrer Ausstellungen sind für die Besucher nicht gerade leicht verständlich. Denken Sie auch an das Publikum?

Der Künstler denkt bei seinem Schaffen nie oder nur sehr selten an das Publikum. Das ist ein Problem der Transmission. Natürlich dient eine Ausstellung dazu, dass die Werke Aufmerksamkeit erhalten. Das ist unsere Aufgabe. Wir denken an das Publikum, indem wir ihm immer wieder andere Dinge auf verschiedenste Weisen zeigen. Wir switchen von Mathematik zu Volkskunst oder Design. Die Begegnung mit den Zuschauern und die Vermittlung muss so immer wieder neu überdacht werden.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Für die Ausstellung über Mathematik haben wir Studierende aus diesem Fachbereich angestellt und ausgebildet, damit sie den Besuchern spezifisch Auskunft geben konnten. Dann gibt es auch Ausstellungen, die für sich selbst sprechen, wie die von Ron Mueck, die schon durch seine große Bekanntheit ein Publikumserfolg war. Die Leute standen drei Stunden Schlange, um Muecks Menschen zu sehen. Wir zählen immer auf die Neugier der Leute – und das funktioniert.

Die Fondation Cartier residiert in einem eigens entworfenen Gebäude mit prächtigem Garten. Der Architekt Jean Nouvel betrachtet es als eines seiner wichtigsten Werke.

In Jouy-en-Josas bei Versailles war der Platz zu eng, und für uns war es ein Glücksfall, dieser kulturellen Wüste nach Paris zu entkommen. Jean Nouvel ist sehr wichtig für uns, denn im Jahr 1994 war sein Entwurf nicht selbstverständlich. Wir haben das Glück, diesen Garten zu haben, mit einer vom deutschen Künstler Lothar Baumgarten geschaffenen Arena. Kürzlich haben wir vom Naturhistorischen Museum ein Inventar zur Biodiversität erstellen lassen, um dem Publikum sagen zu können, was es dort alles an Pflanzen, Vögeln, Schmetterlingen, anderen Insekten oder Fledermäusen gibt. Das Ergebnis ist erstaunlich. Wir werden das bei unseren Gruppenführungen für Kinder einbauen.

Das Programm zum Jubiläum beginnt mit einer etwas eklektisch anmutenden Retrospektive. Was ist noch geplant?

Das Programm zum 30-jährigen Bestehen dauert ein Jahr, weil wir Zeit benötigen, um unsere Geschichte zu erzählen. Dazu braucht es auch viele Erzähler – Werke, die sagen, wie sie entstanden sind. Nehmen wir zum Beispiel das Flugzeug von Marc Newson, der heute als Designer eine Ikone ist. Ich kannte ihn überhaupt nicht, als er eines Tages 1995 mit seinem Projekt zu uns kam. Ich habe ihm in fünf Minuten zugesagt. Und was er realisiert hat, war für ihn und für uns sehr bedeutend. Wir können durch die jetzige Ausstellung spazieren und ich kann zu jedem Werk eine lange Geschichte über die Entstehung erzählen. Das ist unsere Funktion der „Transmission“, der Vermittlung.