Hardcore wohnt hier nicht mehr

KONZERT Hüsker-Dü-Legende Grant Hart erkundet im Heimathafen Neukölln mit Milton ein verlorenes Paradies

VON ANDREAS HARTMANN

Ein Glöckchengebimmel ertönt, das ist das Zeichen, dass es endlich losgeht. Der Vorhang fällt, von der Eingangstüre her nähert sich eine Oboistin langsam der Bühne. Diese ist bereits in Rotlicht getaucht und gehörig vernebelt, und sofort wird klar: Das muss sie sein, die Hölle, von der in John Miltons Epos „Paradise Lost“ so viel die Rede ist. Und um genau diese Hölle aus einem Gedicht des 17. Jahrhunderts soll es heute Abend ja unter anderem gehen.

Hölle, Paradies, Sündenfall – im gemütlichen Konzertsaal des kleinen Heimathafens Neukölln werden an diesem Donnerstagabend endlich mal die wirklich großen Themen angepackt. Drunter wollte es Grant Hart, dessen letztes Album, „The Argument“, hier aufgeführt wird, aber auch einfach nicht machen. Hart, der Hardcoremusiker. Das Album „Land Speed Record“ seiner damaligen Band Hüsker Dü aus dem Jahr 1982 wurde ein Meisterwerk des Speed-Punk, während ihr schillerndes Doppelalbum „Zen Arcade“ gleich neben das „Weiße Album“ der Beatles einsortiert gehört.

Zusammen mit Bob Mould bildete Hart so etwas wie die Simon & Garfunkel des amerikanischen Hardcores. Die beiden brachten Punk damals die Melodien bei, und Hüsker Dü bereiteten den Boden für Nirvana und Emocore. Zwei queere Egos inmitten des Macho-Genres Hardcore fanden sich mit Mould und Hart, die sich hassten und liebten und die sich, wie so viele geniale Duos der Popmusik, irgendwann heillos zerstritten. Hüsker Dü lösten sich im Unguten auf, Grant Hart entdeckte Heroin und war in den vergangenen 25 Jahren ziemlich erfolglos; seine Soloplatten, die in dieser Zeit entstanden sind, kann man eigentlich allesamt vergessen.

Die Hölle hinter ihm

Mit „The Argument“ jedoch setzte er jetzt noch einmal alles auf eine Karte, schuf ein bizarr-ambitioniertes Konzeptalbum, das sich um das besagte „Verlorene Paradies“ dreht, wie es sich der englische Dichter John Milton vorstellte, aber auch um seine Freundschaft mit dem Beatnik William S. Burroughs, auch so einem Verdammten, der nicht genug kriegen konnte von Drogen aller Art. Mit dem Album hat Grant Hart einen Weg aus dem Hades gefunden, die Kritiken waren gut, man interessiert sich wieder für ihn. Und nun steht er eben hier in Neukölln mit der Gitarre in der Hand und mit einer richtigen Künstlerfrisur.

Die Hölle liegt hinter ihm, Punk ist tot, und links und rechts neben ihm sitzen Streicher und Bläser und spielen Instrumente, die auch schon John Milton ein Begriff waren.

Grant Hart performt sein aktuelles Album gemeinsam mit dem Berliner Ensemble Stargaze, das sich inzwischen darauf spezialisiert hat, mit idiosynkratischen Popmusikern zusammenzuarbeiten, ohne dabei zu sehr den Pop-meets-Klassik-Klischees zu verfallen. Wer auch mal irgendwas mit Streichern machen will, der ist bei Stargaze jedenfalls an der falschen Adresse. Das Orchester erarbeitet sich mit abenteuerlustigen Popmusikern gemeinsam ein Aufführungskonzept, dann werden im Kollektiv die letzten Grenzen zwischen Klassik und Pop eingerissen. Mit diesem Konzept ist Stargaze inzwischen international gefragt, demnächst tritt das Orchester mit der gefeierten Julia Holter in London auf, die bereits Euripides vertont hat und die so wie Grant Hart etwas mehr will mit ihrer Popmusik als nur unterhalten.

Man kann bestimmt darüber diskutieren, ob das, was Stargaze da mit Grant Hart veranstalten, nun wirklich eine Neudefinition von Popmusik als Kunstform ist oder ob man wieder da angekommen ist, wo man zu Zeiten von Emerson, Lake & Palmer und deren Klassikrock in den frühen Siebzigern schon einmal war.

Wenn Grant Hart theatralisch singt wie David Bowie und das große Drama sucht wie The Divine Comedy oder der junge Scott Walker, Bassklarinette und Violinen dazu jubilieren, weiß man zumindest nicht mehr, in welche Genreschublade man diese Musik stecken soll. Nur dass das kein Hardcore mehr ist, das ist klar. Allerdings muss noch gesagt werden: Die Energie von „Zen Arcade“ würde Hart auch nicht mithilfe eines hundertköpfigen Orchesters erreichen.