Klang und Diskurs

POP Gestern ging die Berlin Music Week zu Ende. Rückblick auf ein Branchenspektakel zwischen Business und Befreiung

Es war eine wahre Floskelschlacht. Doch zwischen zähem BWL-Sprech und Selbstbeweihräucherung war die diesjährige Berlin Music Week nicht nur der obligatorische Catwalk der Musikindustrie, sondern ließ auch Raum für kritische Diskussionen. Und zwar über das, worum sich eigentlich alles drehte: Popmusik. Diese entsteht, so weiß der Musikjournalist Klaus Walter, oft immer aus dem Willen heraus, sich aus einem Gefängnis zu befreien. In welchen Gefängnissen stecken wir eigentlich heute, im Zeitalter einer längst überwundenen Postmoderne, in der das Kulturelle nicht nur jederzeit verfügbar ist, sondern auch nebeneinander existiert? Das war eine der Fragen, mit der Marcus Engert, Chefredakteur von detektor.fm, Klaus Walter auf der „Word“-Konferenz konfrontierte.

Walter, der sich kritisch mit den kulturellen und sozialen Bedingungen von Popkultur auseinandersetzt, findet es eigentlich „larmoyant“, zu jammern, denn Pop habe trotz der miserabler werdenden Produktionsbedingungen auch heute noch mit Genuss zu tun. Das größte Gefängnis heute sei die Selbstausbeutung. Nach der Absetzung der legendären Sendung „Der Ball ist rund“ im Hessischen Rundfunk, die vielen Hörern popkulturelle Erweckungserlebnisse bescherte, arbeitet Walter heute u.a. bei ByteFM – einem unabhängigen Internetradio, das von „Profis im Praktikantenmodus“, also unentgeltlich gestaltet wird. Für die ModeratorInnen, die sonst tagsüber „entfremdete Arbeit“ bei öffentlich-rechtlichen Sendern leisteten, sei der Sender ein Hobby. Der Charme des Unperfekten, wie etwa das nicht herausgeschnittene Hundebellen im Hintergrund, sei manchmal vielleicht amüsant, aber langfristig eher störend. Trotz der düsteren Selbst(-kritik) waren sich Walter und Enger zum Schluss einig, dass der Popdiskurs, also das Reden und Diskutieren über neue Musik, immer noch eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung hat. Denn Pop ist immer noch die beste Möglichkeit zur Selbstermächtigung.

Von nichts anderem handelte der Vortrag des britischen Musikjournalisten Adam Harper, bei dem er einen neuen musikalischen Trend vorstellte, den er als High-Tech bezeichnet. Im Vergleich zur Low-Tech-Ästhetik der 90er, also warmen, nach Authentizität lechzenden Klängen inklusive Nostalgiemodus, bestehe High-Tech vor allem aus einer digitalen, metallischen Kälte und oft tragikomischen Zukunftsvisionen. Eine Ästhetik, die einige obskure Stile hervorgebracht hat, wie etwa Nightcore, Queer Rap oder Vaporwave, das musikalisch zwischen trashigen 80er-TV-Soundtracks und stimmungsmodulierender Fahrstuhlmusik angesiedelt ist, und längst nicht mehr nur in der Nische stattfindet, wie der Erfolg von Oneohtrix Point Never oder James Ferraro zeigt.

In vielen Songs verstecken sich zudem subversive Botschaften wie etwa leichte verfremdete Werbejingles oder Klänge des digitalen Alltags wie etwa der Skype-Sound. Denkt man dies weiter, so findet hier eine Umkehr der Popmusikthese statt. Denn die Musik der oft sehr jungen Künstler ist kein Ausbruch aus einem Gefängnis mehr, sondern eine Überaffirmation an eine digPop ist immer noch die beste Möglichkeit zur Selbstermächtigung itale, durchkommodifizierte Klangumwelt. PHILIPP RHENSIUS

„This is for all my ladies!“

Es ist eine besondere Stimmung in dem aufgeheizten Glashaus am Arena-Gelände in Berlin, als die belgische Rapperin Coely von der Bühne im Duktus einer Predigerin einen ihrer Songs ankündigt: „This is for all my ladies!“ In dem Song scheint die 20-jährige HipHop- und Soul-Nachwuchshoffnung noch mal all die Erfahrungen in der Musikszene nachzuzeichnen, nach denen man als Frau im HipHop immer noch doppelt so hartnäckig sein muss, um auf den Bühnen und in den Hinterzimmern der Musikindustrie zu bestehen.

„For all my ladies in the house / It’s time to show what we’re about“, shoutet, röhrt und rappt sich die Antwerpenerin am Samstagabend durch ihr Set beim Berlin Festival, dem Abschlussevent der Berlin Music Week. Bei dem fünftägigen Festival und Branchentreffen an der Spree schien es ohnehin – auch, was die Auswahl der Acts anging – gendertechnisch recht ausgewogen zu sein.

Dies ist nicht der Regelfall. Denn ein wesentliches Dilemma des Pop-Business zeigte sich schon bei den Panels der diesjährigen Berlin Music Week: Auf den Podien saßen bei insgesamt mehr als 250 geladenen Gästen aus der Musikindustrie etwa 70 Prozent Männer und 30 Prozent Frauen. Und dies ist schon eine gute Quote im Vergleich zu anderen Konferenzen.

Bei einem Panel am Donnerstag, bei dem diese Fragen der Gleichberechtigung im Pop diskutiert wurden („Revolution Girl Style Now! – How to achieve diversity in the music business“), war die Stimmung nach den Entwicklungen der jüngeren Zeit von vorsichtig optimistisch bis immer noch ernüchternd.

Zum einen, sagte Janine Wülker vom Digitalvertrieb Fine Tunes, gebe es die „Ängste bei Frauen nicht mehr, in Tech-Berufe zu gehen“, und es zeichne sich ein neues Selbstbewusstsein ab. Es gebe zudem ein neues Problembewusstsein in der Branche – etwa, dem Missverhältnis zur Not auch mit Quotenregelungen zu begegnen.

Bei Soundcloud, so Thom Cummings von der Streaming-Firma, sei das Verhältnis auch ungefähr bei 70:30 – in den Entscheiderpositionen und bei den Entwicklern noch schlechter. Darauf müsse man ständig hinweisen und die Männer ins Boot holen. Guardian-Journalistin und Musikerin Helienne Lindvall, die über Genderthemen im Pop bloggt, wies jedoch darauf hin, dass der Musikzirkus generell noch Männerangelegenheit sei – etwa im Bereich Musikproduktion. Und die Festivals, die sie besuche, seien vor und auf der Bühne von Männern dominiert.

Sowieso, Festivals: Hat schon im vergangenen Jahr eine Studie das extreme Missverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Künstlern bei Festivals nachgewiesen (auf neun männliche Künstler soll auf den großen Festivalbühnen eine Frau kommen), kam jüngst eine Erhebung des britischen Telegraph zu dem Ergebnis, dass bei mehr als 43 Prozent reinen Männerbands bei britischen Festivals gerade mal 3,5 Prozent reine Frauenbands sind.

Gleich neben dem Glashaus spielte dagegen am Samstagabend noch die aus Irkutsk stammende Techno- und House-Produzentin Nina Kraviz ein gefeiertes Set – auch keine Selbstverständlichkeit, denn dass auch in der Elektroszene weiterhin ein immenser Nachholbedarf besteht, zeigte jüngst eine Studie des Netzwerks „Female Pressure“, nach der im Bereich der Beats und Bytes 80 Prozent der Künstler männlich sei.

JENS UTHOFF