Ist es so gewesen?

THEORIE Nach 175 Jahren Daguerreotypie stellt der Kunstwissenschaftler Steffen Siegel in gleich drei Büchern die Gretchenfrage, was eine Fotografie sei

Heute redet man vom postfotografischen Zeitalter oder von der „Fotografie nach der Fotografie“

VON RALF HANSELLE

Revolutionen misst man am Maß der Erregung. Je mehr Pomp und Lametta, desto mehr Bedeutung wird ihnen beigemessen. So gesehen ereignete sich am 19. August 1839 in der Akademie der Wissenschaften und der schönen Künste in Paris tatsächlich so etwas wie eine Revolution. „Sonnengünstling und Gemahl des Lichts, vernehme:/ Das unsere Traulichkeit erwirkte Wunder“, dichtete der französische Salonschriftsteller Népomucène Lemercier anlässlich einer Erfindung, die an jenem Sommertag vor 175 Jahren der Öffentlichkeit übergeben worden ist: der Fotografie.

Es war der Physiker Dominique François Arago, der die allein durch Sonnenlicht generierten Daguerreotypien mit überschwänglichen Worten vorstellte und von der „vollendeten Glätte“ dieser Bilder schwärmte, von ihrem „samtweichen Glanz und ihrer Harmonie“. Und während man in der Akademie noch jubilierte, drängte draußen eine Menschenmenge herbei, wie man sie heute allenfalls noch von der Neueröffnung eines Apple-Stores kennt.

Kein Mensch würde heute anlässlich der demnächst eröffnenden Photokina noch Oden verfassen. In Kunst und Wissenschaft haben sich Technobilder nicht nur etabliert, die digitale Wende hat die Rede vom sogenannten postfotografischen Zeitalter oder von der „Fotografie nach der Fotografie“ entstehen lassen. Ein 175-jähriger Geburtstag gibt also Anlass für eine Standortbestimmung. Das International Center of Photography (ICP) in New York verband diese jüngst mit der Gretchenfrage. „What is a Photograph?“ hieß die Fotoausstellung der Kuratorin Carol Squiers. Zu sehen waren Positionen von Marco Breuer, Gerhard Richter oder Liz Dechenes. Positionen, die vorsichtiger geworden sind gegenüber den alten und vorschnellen Antworten. Das ICP zeigte Abstraktionen und Materialbefragungen.

Ich ist zwei andere

Was ist eine Fotografie? Dieser Frage hat der Jenaer Kunstwissenschaftler Steffen Siegel gleich drei Bücher gewidmet: „Neues Licht“, eine Anthologie mit Texten aus der Frühzeit des Mediums, „Ich ist zwei andere“, ein Essay zu Jeff Wall, und „Belichtungen“, ein Sammelband mit Einlassungen zur fotografischen Gegenwart.

Auch Siegel steht den klassischen Definitionsversuchen kritisch gegenüber. Das Gerücht von der „Lichtmalerei“ hinterfragt er ebenso gekonnt wie das frühe Gerede vom „Pencil of Nature“. „Antworten auf die Frage, was Fotografie ist“, so Steffen Siegel in „Belichtungen“, „hängen von komplexen und wandelbaren Bedingungen ab.“

Die Grenzen des bildmedialen Terrains des Fotografischen sind ebenso durchlässig wie instabil.“ Vornehmlich die Digitalisierung sei es nach Siegels Meinung gewesen, die dazu geführt habe, dass wir das Fotografische neu denken lernen müssen. Schrieb die Schweizer Zeitung noch 1839 in einem Bericht über Daguerres Erfindung, dass „alle Fäden des Lichtgewebes vom Objekt ins Bild übergegangen“ seien, so lassen medienkritische Kunstwerke der letzten Jahre – Siegel verweist hier etwa auf Thomas Ruff – etwas anderes vermuten. Fotografie ist nicht mehr Abbild, in ihrer neuen Pixelstruktur trägt sie in sich alle Anlagen für ein autonomes Bild. Der alte Glaube daran, dass sich in die fotografische Oberfläche nicht mehr als die außerfotografische Wirklichkeit einschreibt, ist obsolet.

Hier verlässt der Autor seine interessante Spur. Statt das fotografische Bild endgültig von seinen Außenreferenzen zu befreien, wie dies etwa der US-Fototheoretiker Lyle Rexer in seinem Buch „The Edge of Vision“ unternommen hat, wendet sich Siegel in weiteren Texten wieder vertrautem Terrain zu. Statt Theoriebildung unternimmt er Bildbetrachtung. Überlegungen zu den fotografischen Nebenwegen von Cy Twombly folgen auf Untersuchungen zu den „Museum Photographs“ von Thomas Struth oder zu „Deutsche in Uniform“ von Timm Rautert. Das ist gut gesehen und klug geschrieben. Dennoch geht Siegel nicht mehr an die Wurzel zurück. Er hält sich fest an ein selten hinterfragtes Diktum von Roland Barthes, nachdem das „Es ist so gewesen“ für die Fotografie kennzeichnend sei.

Dabei hätte der Autor in „Belichtungen“ auch einen anderen Weg einschlagen können. Bereits im zweiten von insgesamt fünfzehn Kapiteln zitiert er den US-Literaten Oliver Wendell Holmes. Schon 1859 schrieb dieser prophetisch: „Wir fürchten uns fast ein wenig davor, Mutmaßungen über die Zukunft der Photographie anzustellen. Die Form wird in Zukunft vom Stoff geschieden sein. Tatsächlich ist der Stoff im Sinne eines sichtbaren Objekts nicht mehr von großem Nutzen.“

Es war ein Paukenschlag. Doch erst die Avantgarden und später die „Konkrete Fotografie“ sollten ihn zum Klingen bringen. Heute sind es Künstler wie die aus der ICP-Ausstellung, die erneut Stoff und Form zu scheiden beginnen. Es scheint eben, als wüssten die Alten zuweilen mehr über die Gegenwart der Fotografie zu berichten als alle klugen Zeitgenossen. Und so ist „Neues Licht“, Siegels Sammelband mit Texten aus ebendieser fotografischen Frühzeit, sicherlich das radikalste Buch, das der Autor in diesem Jahr zur Fotografie vorgelegt hat. Aber so ist das wohl immer mit Revolutionen. Ihre Sprengkraft entwickeln sie ganz am Anfang.

■  Steffen Siegel: „Belichtungen. Zur fotografischen Gegenwart“. Wilhelm Fink Verlag, München 2014, 344 Seiten, 39,90 Euro

■  Ders.: „Ich ist zwei andere“. Ebd., 60 Seiten, 14,90 Euro

■  Ders: „Neues Licht. Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839“. Ebd., 518 Seiten, 59 Euro