Schlag mit den Armen

KLANGKUNST Für Kinder und Erwachsene: Das Musikfestival „90 dB“ in Rom holte mit interaktiven Installationen die museale Via Appia Antica in die multimediale Gegenwart

In der 1986 stillgelegten Fabrik wurden während der frühen neunziger Jahre noch Technopartys gefeiert, danach verfielen die Gebäude mehr und mehr. Nun fanden sich täglich bis zu 1.000 Musikfreunde ein, sonnten sich auf Europaletten oder probierten die eine oder andere Klangkunstarbeit aus

VON TIM CASPAR BOEHME

Die Attraktionen der Via Appia Antica in Rom zeichnen sich in der Regel durch die Abwesenheit von Leben aus. An den Überresten der antiken Handelsstraße gibt es vor allem Grabstätten zu bewundern, von den Katakomben bis zu diversen imposanten Grabmonumenten – im Alten Rom durften die Toten nicht in Wohngebieten bestattet werden, daher wählte man Ausfallstraßen, von denen die Via Appia schon damals die berühmteste war. Noch heute kann man hier die oft meterbreiten antiken Pflastersteine sehen, die belegen, in was für großem Maßstab man im Imperium dachte.

Das Festival „90 dB“ war insofern zugleich die Gelegenheit, eine nahezu unbekannte Seite der Appia Antica zu entdecken: „Dieser Ort liegt recht nah am Zentrum, ist aber ein bisschen unsichtbar“, sagt Massimiliano Busti, der künstlerische Leiter von „90 dB“. In der 1986 stillgelegten Fabrik wurden während der frühen neunziger Jahre noch Technopartys gefeiert, danach verfielen die Gebäude mehr und mehr. Für Busti war der zufällige Fund der sogenannten Ex Cartiera Latina eine Überraschung: „Sie liegt direkt an der Straße, doch nur wenige Leute wissen, dass es im Inneren diese wunderschöne Anlage gibt.“

Alle sollen kommen

Nun fanden sich täglich bis zu 1.000 Musikfreunde ein, in der Mehrheit jüngeren Alters, viele mit Kindern, und verteilten sich in entspannter Betriebsamkeit auf die Hallen und den weitläufigen Hof, sonnten sich auf Europaletten oder probierten die eine oder andere Klangkunstarbeit aus. Das von der römischen Stadtverwaltung finanzierte Festival sollte dabei einen möglichst niedrigschwelligen Zugang bieten, sagt Busti: „Aus diesem Grund haben wir einige interaktive Installationen ausgewählt.“

Als höchst familienfreundlich erwies sich die Arbeit „The Cave of Sounds“ des britischen Künstlers Tim Murray-Browne, in der man spielerisch Klänge erzeugen konnte. Auf kreisförmig angeordneten Podesten lagen Objekte bereit – ein Ball, mit dessen Bewegungen man Klänge steuerte, eine Lampe über lichtempfindlichen Kontakten, die verschieden hohe Töne zum Quäken brachten. Oder man folgte der Aufforderung, sich in die Mitte eines markierten Kreises zu stellen und wie ein Vogel mit den Armen zu schlagen, was ein weiteres Klangereignis auslöste. Die Kinder zeigten sich von dieser Form der Partizipation sehr angetan.

Vögel spielen in der kinetischen Klangskulptur „Migrating Birds“ der Engländerin Kathy Hinde eine tragende Rolle. Der Metallrahmen eines Klaviers dient als Projektionsfläche für die Silhouetten von Vögeln, die auf Stromleitungen sitzen. Sobald eines der Tiere sich zu regen beginnt, zupft ein softwaregesteuerter Bewegungsmelder bestimmte Klaviersaiten an, als würden die Vögel selbst an ihnen zerren. Auf wesentlich elementareren kinetischen Prinzipien beruht das „Nocturno“ des in Berlin lebenden Argentiniers Edgardo Rudnitzky: In einem Raum hatte der Künstler unterschiedlich gestimmte Monochorde aufgestellt, Instrumente mit genau einer Saite, die durch einen Mechanismus angeschlagen wurden, bei dem Metallfedern mit Holzkugelgewicht so lange von einer Kerzenflamme erhitzt wurden, bis die Kugel auf einen Magnethammer zuschnellte, der dann die Saite erklingen ließ. Ein spukhafter wie poetischer Beitrag zur nichtdigitalen Klangkunst.

Gespenstisch gibt sich auch die Musik der ebenfalls in Berlin ansässigen Kolumbianerin Lucrecia Dalt, die ihre Nachtstücke aus Bass, Gesang und elektronischen Klängen am Samstag zum ersten Mal in Italien aufführte. Dalt webt ihre filigranen Skizzen aus scheinbar zufälligen Rhythmen und Geräuschen, über die sie mit fast flüsternder Stimme knappe Melodiefragmente haucht. Weniger nuanciert, dafür umso energischer präsentierten sich anschließend der portugiesische Organist David Maranha und der australische Schlagzeuger Will Guthrie. Ihre Kombination von dichten Trommelattacken und flirrend-verzerrten Orgelfiguren mutete wie ein Pink Floyd-Revival mit den Mitteln von Drone und Free Jazz an. Wie man Hochgeschwindigkeitsgetrommel mit nur wenig Lautstärke sinnvoll nutzen kann, machte tags darauf der US-Amerikaner Eli Keszler in seiner Soloperformance vor. Obwohl sein Schlagzeug elektrisch verstärkt wurde, musste man sich schon sehr konzentrieren, um die Nuancen seines dezenten Spiels genau herauszuhören. Stecknadelspitzengleich pochten seine Stöcke, wenn Keszler die Becken nicht gerade mit Geigenbögen zu Glocken umfunktionierte.

Roh und spröde

Die jungen Experimentalmusiker Roms waren bei „90 dB“ durch das Projekt Heroin in Tahiti vertreten. Das Duo arbeitete mit insistierenden, ritualhaften Rhythmen, ergänzt um Versatzstücke aus Surfrock, Westerngitarren, Maultrommelschnalzen oder Horrorfilm-Orgeln, denen sie abstrakte elektronische Fieptöne und Drones zur Seite stellten – roh und spröde, aber ebenfalls zugänglich. Ihre sparsam dosierten Mittel verdichteten die Musiker nach und nach zu einem beinahe erzählerischen Spannungsbogen.

Zum Abschluss des Festivals konnte man den 1938 geborenen US-amerikanischen Komponisten Alvin Curran erleben. Curran, der in Rom lebt, zählte in den sechziger Jahren zu den Mitgründern des Improvisationsensembles Musica Elettronica Viva. Sein Konzert am Sonntag war als Zusammenfassung seines Schaffens von 1965 bis heute konzipiert: In einer sprudelnden Collage rührte er Sprach-Samples von Show-Zitaten bis zu dem rasend schnellen Singsang US-amerikanischer Auktionatoren mit Klavier- und anderen Akkorden zu einer brachialen Melange zusammen, hier und da abgesetzt durch schmerzhaft laute elektronische Donnerschläge. Ein furioses, wenngleich etwas altmodisches Ende für dieses hochkarätig besetzte Festival.