Mit Speed durch den Tag

TIEFENSCHÄRFE Thomas Melle ist mit seinem Roman „3000 Euro“ für den deutschen Buchpreis nominiert. Der Autor zeigt sich gereift

VON FRANK SCHÄFER

Schon in seinem viel beachteten Debüt „Sickster“ (2011) hat Thomas Melle seine Akteure am charakterverbiegenden, nervenzerrüttenden Markt laborieren lassen. Sie landen schließlich in der geschlossenen Abteilung der Charité und planen den großen Coup gegen das neoliberale System, den Aufstand der Irren. Man sah sofort die beachtlichen sprachlichen Fähigkeiten des Autors und ebenso deutlich seine Prätention, die sich auch in der didaktischen Konstruiertheit seiner Story offenbarte.

So ganz ohne Didaktik kommt auch sein neuer Roman, „3000 Euro“, nicht aus. „Humpeln die Penner an uns vorbei“, spricht der Erzähler mit erhobenem Zeigefinger, „berührt uns das unangenehm. Nicht nur ist es eine ästhetische Belästigung, sondern auch ein moralischer Vorwurf. Wieso bitte ist dieser Mensch so tief gesunken, welche Gesellschaft lässt einen derartigen Verfall zu? Das ist schon kein Mensch mehr, sondern ein Ding. Dann geht man weiter, angewidert fast und verscheucht den Eindruck, lässt das Ding hinter sich zurück.“

Latent suizidgefährdet

Dagegen schreibt Melle nun erfolgreich an. Anton war einst ein hoffnungsvoller Jura-Student, schmeißt dann aber aus Trägheit und rebellischem Idealismus das Studium und stürzt schließlich ab. Er verliert seine Wohnung, macht wie in einem Rausch Schulden und lebt jetzt in einem Obdachlosenheim. Voller Selbst- und Weltekel, latent suizidgefährdet, wartet er auf seine Verhandlung, die er eigentlich nur verlieren kann. Dabei geht es erst mal bloß um 3.000 Euro.

Auch Denise fehlt diese Summe. Sie ist der schon längere Zeit ausstehende Lohn für ihre Mitarbeit an einigen Internetpornos. Eigentlich jobbt sie als Kassiererin in einem Supermarkt und kommt nur noch mit Speed durch den Tag, überfordert von einer lernbehinderten Tochter, die sie liebt und der sie dennoch oft genug den Tod wünscht. Sie träumt von New York, deshalb die Schmuddelvideos.

Melle erzählt, wie sich Anton und Denise kennenlernen, näherkommen, sich aneinander aufrichten, wieder aus den Augen verlieren, um schließlich doch noch so etwas wie ein Liebespaar zu werden. Dabei wechselt er immer wieder die Perspektive, springt zwischen ihren beiden Köpfen hin und her. Das bringt zum einen Spannung in diese eigentlich unspektakuläre „Boy meets girl“-Geschichte. Zum anderen verleiht es ihren Profilen eine gewisse Tiefenschärfe, eben weil man beide Protagonisten nicht nur in ihrer eigenen Wahrnehmung kennenlernt, sondern überdies in der des zugewandten Gegenübers.

Und vor allem gelingt ihm so ein ziemlich facettenreiches Abbild des niederschmetternden Alltagslebens am sozialen Rand. Heroisch oder auch nur exotisch ist hier gar nichts. Melle zeigt die Zurückweisungen, wenn ehemalige Kommilitonen sich peinlich berührt von Anton abwenden, die Entmündigung, wenn das befreundete Juristen-Ehepaar seine Situation diskutiert, als wäre er nicht im Raum, und die Scham, wenn Denise an der Kasse als Porno-Aktrice wiedererkannt und gedemütigt wird. Er entwirft hier zwei plausible, wahrhaftige Antihelden, die alles andere als Grundsympathen sind – Denises Jähzorn gegenüber ihrer kleinen Tochter und Antons Selbstgerechtigkeit können einen schon gegen sie aufbringen –, denen man seine Empathie aber dennoch nicht versagen kann.

Melle macht auch nicht den Fehler linker Kitschiers, sie als bloße Opfer darzustellen und die Gesellschaft für alle ihre Fehler in die Verantwortung zu nehmen. So versucht sich Anton noch einmal an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen und als Straßenmusiker zu verdingen, durchaus mit ersten Erfolgen. Aber dann verliert er im Suff sein Equipment, und als er von einem Radiojournalisten zum Interview gebeten wird, lehnt er dies brüsk ab. Anton will nicht mehr mitspielen. Wie sehr er sich da von uns unterscheidet, zeigt eine hinterlistige, entlarvende Volte des Autors. Kurz vor der Verhandlung stirbt sein Vater, zu dem er offenbar keinen Kontakt hatte. Sofort denkt man an das mögliche Erbe und spielt gedanklich ein Rettungsszenario durch. Nicht so Anton, er schreibt einen Song, „schnell hingewischt auf eine Mahnung, dann weggeworfen. Und bald sind die Gedanken an den Vater nicht mehr aufzufinden“. Ihm ist nicht mehr zu helfen, nicht zu den Bedingungen des Systems.

War „Sickster“ noch ein bisschen zu großspurig, hat Thomas Melle seine Ambitionen in diesem Roman souverän in den Griff bekommen. „3000 Euro“ liest sich wie eine realistischere, ökonomischere, nicht zuletzt auch sprachlich konzisere – alles in allem reifere Variante des Debüts.

Thomas Melle: „3000 Euro“. Rowohlt Berlin, Berlin 2014, 203 Seiten, 18,95 Euro