Duell in der Philharmonie

MUSIKFEST Fast wie der Showdown eines Westerns: Die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Simon Rattle konfrontieren an drei Abenden Werke von Johannes Brahms mit denen seines Mentors Robert Schumann

Es ist eine Geisterbeschwörung, die dem Orchester enorme Bandbreite abverlangt

VON KATHARINA GRANZIN

Noch immer klingeln die Ohren. Mit einem symphonischen Marathon der Berliner Philharmoniker ist das diesjährige Musikfest zu Ende gegangen: an vier Abenden acht Symphonien von zwei Komponisten. Da Schumann und Brahms beide jeweils vier Symphonien schrieben, geht das rechnerisch perfekt auf.

Am ersten Abend die jeweils ersten, am zweiten Abend die zweiten und sofort. Ein musikalisches Experiment, eine tolle, fast etwas irre Idee. Schumann und Brahms können die Philharmoniker und Dirigent Simon Rattle sowieso, dieses Jahr erst ist ihre Gesamteinspielung von Schumanns Orchesterwerken erschienen und mit viel Lob bedacht worden. (Wenn man an diesen vier Abenden dabei war, weiß man, warum.) So viel direkte Gegenüberstellung aber ist sonst nie.

Merkwürdige Parallelen

Tatsächlich gibt es merkwürdige Parallelen im Werk von Schumann und Brahms. Nicht nur, dass jeder der beiden Komponisten genau vier Symphonien schrieb; außerdem auch je drei Klaviersonaten, drei Streichquartette, drei Violinsonaten. Beide liebten auch, das bleibt nie unerwähnt, dieselbe Frau: Clara Schumann, die große Klaviervirtuosin, mit Robert verheiratet und Mutter seiner acht Kinder. Der junge Brahms, den Schumann protegiert hatte, wohnte zeitweise bei Schumanns im Hause und war Clara eine seelische Stütze, während Robert in der Psychiatrie verwahrt wurde. Nachdem Robert 1856 mit nur 46 Jahren in der Anstalt gestorben war (an den Spätfolgen einer Syphilis, die vielleicht auch die bipolare Störung mitverursacht hatte, unter der er litt), widmete sich Clara ganz der Pflege des Andenkens ihres Mannes. Und Brahms ging als Chorleiter nach Detmold.

Bei der großen symphonischen Konfrontation muss mitbedacht werden, dass die Voraussetzungen bei diesem Komponistenduell sehr ungleich sind. Das fällt besonders am ersten Abend auf. Schumann schrieb seine erste Symphonie mit 30, Brahms traute sich erst mit 43. Dafür wurde Schumanns „Frühlingssymphonie“ hörbar beflügelt von der endlich erfüllten Liebe zu Clara, die er gerade geheiratet hatte. So ist denn diese Erste von Schumann ganz frei von jeder irritierenden Unterströmung, beschwingt und so unbekümmert, dass es fast ans Belanglose grenzen würde – wenn da nicht die Streicher der Philharmoniker wären, die diese zarten Frühlingsgefühle derart delikat ins Klangliche überführen, dass man sich wünscht, man könnte allein diesen fein gesponnenen Geigengesang einpacken und sich an kühlen Abenden wie ein weiches Seidentuch über die Schultern legen. Doch an diesem Abend wird es nach der Pause eher noch wärmer, denn Schumanns Wohlfühlmusik wird kontrastiert mit einem Werk, in dem die zeitgenössischen Kritiker quasi Beethoven wiederauferstanden wähnten. Brahms trumpft gleich zu Beginn seiner Ersten Symphonie mit großem Gestus und ostinaten Paukenschlägen auf, als hätte er vor gar nichts Angst – schon gar nicht vor Beethovens Schatten. Es ist eine kraftvolle Geisterbeschwörung, die dem Orchester zwischen kraftstrotzend und lyrisch-beschwörend eine enorme Bandbreite im Gestus abverlangt. Der Kontrast zwischen beiden Werken könnte kaum größer sein. Dieser erste Abend geht eindeutig an Brahms.

Am zweiten Abend sind die Karten anders verteilt. Schumann schrieb seine Zweite unter erschwerten psychischen Bedingungen. Er hatte Clara 1844 auf einer Russlandtournee begleitet. Sie war gefeiert worden, während er sich unsichtbar fühlte und höchstens mal gefragt worden war, ob er „auch was mit Musik“ mache. Nach der Rückkehr erlitt er einen Zusammenbruch. Der Symphonie, an der er schon arbeitete, während es ihm noch nicht wirklich gut ging, ist die seelische Unbalanciertheit deutlich anzumerken. Es ist hochspannend, wie Rattle und das Orchester dieses störende Quentchen Hyperaktivität, dieses unfassbare Seltsame ausagieren, nicht im musikalischen Fluss beschönigend untergehen lassen, sondern sorgsam ausstellen. Die Brahms’sche Zweite ist im Prinzip total in Ordnung, aber dieser Punkt geht an Schumann.

Vergeigter Extrapunkt

Der dritte Abend endet unentschieden, denn Brahms vergeigt den Extrapunkt, den er für seine unfassbar schön und dicht gewobene Dritte schon fast in der Tasche hat, weil er das Ganze in musikalisches Larifari ausklingen lässt. Und der Punkt des letzten und vierten Abends geht so was von an Schumann! Denn dessen Vierte (die eigentlich die zweite ist, denn Rattle spielt die Erstfassung, die der Komponist nicht gut genug fand) ist ein so mitreißendes und zugleich wieder so interessant prekär balanciertes Stück, dass der ostentativ meisterhafte Gestus von Brahms’ ausgedehnter Vierter daneben regelrecht unsympathisch ausfällt. Eigentlich schade, dass die tolle große Sause gerade mit diesem Imponiergetue enden muss. Aber das ist natürlich Geschmackssache.

Übrigens ist das Musikfest zwar am Ende, aber der unermüdliche Sir Simon noch lange nicht. Ab heute geht der große Symphonienvergleich in eine zweite vierabendliche Runde. Es gibt noch Restkarten.