Roman über ein Utopia in Seepferdchenform

DEUTSCHER BUCHPREIS Lutz Seiler wird für seinen Debütroman „Kruso“ ausgezeichnet – ein Endzeitroman der besonderen Art

Lutz Seiler hat im literarischen Betrieb bereits deutliche Spuren hinterlassen

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Als Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, am Montagabend um 18.53 Uhr im Kaisersaal des Frankfurter Römer den Namen des diesjährigen Buchpreisgewinners verkündete, war das kaum eine Überraschung. Schon gar nicht für Lutz Seiler, der für seinen Roman „Kruso“ ausgezeichnet wurde. Seiler ist ein Autor, der fast schon gewohnheitsmäßig Preise gewinnt. Und so hatte er auch eine kleine Dankesrede vorbereitet. „Ein großer Bahnhof“, sei diese Veranstaltung, sagte er, zu dem aber auch die übrigen Züge gehörten, womit Seiler seine fünf Mitkonkurrenten (die außerhalb des Shortlist-Zirkuses weniger Konkurrenten sind als Kollegen) um den begehrten Preis meinte; fünf Schriftsteller mit mehr oder weniger großartigen Büchern, die nun im Zuschauerraum zuschauen mussten, wie Seiler die Auszeichnung entgegen nahm. Thomas Hettche saß hier bereits zum dritten Mal nach 2006 und 2010, und er wird sich gut überlegen, ob er sich das noch ein viertes Mal antun möchte.

„Kruso“ ist, das vergisst man schnell, ein Debütroman. Und doch hat der 1963 in Gera geborene Preisträger Lutz Seiler im literarischen Betrieb bereits deutliche Spuren hinterlassen, sowohl als Lyriker als auch als Prosaautor. Seiler, der seit 1997 das literarische Programm im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst verantwortet, wird spätestens seit der Veröffentlichung seines Gedichtbandes „Pech & Blende“ (2000) als einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker gehandelt. Im Jahr 2007 gewann Seiler bei den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur mit seiner hervorragenden Erzählung „Turksib“ zurecht den Ingeborg-Bachmann-Preis, wobei nicht zuletzt auch Seilers wunderbare, tief tönende Vorlesestimme den ohnehin glänzenden Auftritt noch verstärkte. Der erste Erzählungsband „Die Zeitwaage“ (2009) wurde von der Kritik begeistert aufgenommen; ein weiterer Hinweis darauf, dass auch mit dem Prosaisten Seiler zu rechnen sein würde.

Und nun also „Kruso“, der Roman, beinahe 500 Seiten dick. Bei der Preisverleihung dankte Seiler ausdrücklich seinem Verlag, dem Suhrkamp Verlag, namentlich seiner Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz und seiner Lektorin Doris Plöschberger, „die schon an das Buch geglaubt hat, als es noch nicht viel mehr gab als den Titel“. „Kruso“ ist ein Endzeitroman der besonderen Art, ein Buch über die letzten Monate der DDR aus ungewöhnlicher Perspektive, betrachtet von der Insel Hiddensee aus, einem Ort, an dem sich die Aussteiger, Querulanten, Verweigerer trafen; ein Utopia in Seepferdchenform. Wer sich dort zu DDR-Zeiten aufhielt, so heißt es im Roman, habe das Land bereits verlassen, ohne die Grenze zu passieren.

Hierhin kommt im Sommer 1989, auf der Flucht vor der Erinnerung an den tragischen Verlust seiner Freundin, der junge Student Edgar Bendler und findet eine Anstellung in dem wie ein Schiff hoch über den Klippen gelegenen Ausflugsrestaurant „Zum Klausner“. Dort trifft er auf den charismatischen Alexander Krusowitsch und auf einen ganz eigenen Kosmos von Saisonkräften, promovierte Soziologen, Dichter, Freidenker, die hier als Aushilfen in diversen Jobs arbeiten. „Kruso“ ist der Roman einer Männerfreundschaft, eine atmosphärisch dichte Robinsonade, die in einer rhythmischen Sprache und beeindruckenden Bildern unterschiedliche Freiheitsbegriffe durchspielt und letztendlich auch jenen Menschen ein literarisches Denkmal setzt, die bei ihren Versuchen, aus der DDR über die Ostsee in Richtung Dänemark zu fliehen, ums Leben gekommen sind.

„Kruso“ war der große Favorit auf den Preis, der in diesem Jahr von recht schrillen Nebengeräuschen und bizarren Debatten um Entscheidungskriterien und Frauenquotierungen begleitet wurde. Trotzdem war „Kruso“ nicht der strahlende Solitär dieses Herbstes, als der das Buch nun erscheint: Es ist ein starker Bücherherbst mit bemerkenswerten deutschsprachigen Neuerscheinungen, darunter Thomas Hettche, Thomas Melle oder Bodo Kirchhoff. Und noch etwas ist auffällig: Mit Lutz Seilers Roman setzt sich ein Trend fort, der den Deutschen Buchpreis seit seiner Premiere im Jahr 2005 maßgeblich prägt: Der Deutsche Buchpreis ist ein Preis für deutsche Geschichte. Sechs, wenn nicht gar sieben der bislang ausgezeichneten Bücher widmeten sich entweder dem Nationalsozialismus oder der DDR. Darunter auch Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“, mittlerweile ein Millionenseller, ebenso im Suhrkamp Verlag erschienen wie Seilers „Kruso“ – bereits jetzt mit mehr als 50.000 verkauften Exemplaren ein ungemein und gemessen an seiner sprachlichen Komplexität auch erstaunlich erfolgreiches Buch, dem der Buchpreis noch einmal enormen Verkaufsaufwind geben wird. Das wird auch dem zuletzt finanziell in höchst unruhiger See segelnden Suhrkamp Verlag gut tun.