Niemand bleibt unbeschädigt

THEATER Ihr ungehobelter Humor ist nicht nur witzig, sondern auch klug. Das Stück „Vorhaut“ im Ballhaus Naunynstraße

Der Griff der religiösen Institutionen nach den Neugeborenen ist ja auch reichlich grob

VON INES KAPPERT

Alles ist gut in Neukölln. Die Familie erwartet Nachwuchs, alles scheint glatt zu laufen, körperliche Komplikationen sind nicht zu befürchten. Auch hat sich der deutsche Schwiegersohn prima integriert in die Familie, er scheint sie nicht weiter zu stören. Doch dann gibt er unerwartet Widerworte, und das Familienoberhaupt sieht die Gefahr aufziehen, dass mit einer entscheidenden Tradition gebrochen werden könnte. Ja, klar, die Rede ist von der Vorhaut.

Das Gute an dem gleichnamigen von Necati Özerli geschriebenen und von Miraz Bezar inszenierten Theaterstück, das im Ballhaus Naunynstraße seine Uraufführung erlebte, ist sein grober Witz. Kein Kalauer scheint den Machern zu blöd gewesen zu sein, Berührungsängste sind ihnen offenkundig fremd. Was auch den DarstellerInnen Spaß macht, allen voran Sema Poyraz, die mit großer Freude am Muttermord grandios die Mutter spielt, und auch Eray Egilmez. Unbekümmert gibt er den eitlen, etwas tumben Wichtigtuer-Sohn.

„Ich habe durch die Arbeit an diesem Stück gelernt“, erklärt der Schauspieler nach der Premiere, „dass ich dankbar bin für die Erfahrung, beschnitten worden zu sein. Obwohl es ein schmerzhaftes Ritual war. Aber mit meiner Vorhaut habe ich ja nicht meinen Kopf verloren.“

Erinnert sich noch jemand daran, wie verkrampft und wie verklemmt in Deutschland die Debatte um Beschneidung geführt wurde? „Vorhaut“ macht das Gegenteil, hier wird tief in die Klischeekiste gegriffen. Und das ist befreiend, auch für die ZuschauerInnen.

Genau dieses ungehobelte Humorniveau macht das Stück nämlich nicht nur lustig, sondern auch klug. Der Griff der religiösen Institutionen wahlweise nach den Neugeborenen oder Unmündigen ist ja auch reichlich grob. Warum das nicht großzügig in der Sprache und Gestik widerspiegeln? Bei diesem Stück fließt viel Theaterblut, Kastrationsängste werden weidlich ausgekostet, keine Figur bleibt unbeschädigt, jeder wird zum Hans Wurst, auch die Patriarchin.

Wobei das Detail, dass der Deutsche die ganze Zeit mit Pluderhose und ausgestopftem Po rumlaufen muss – also das denkbar Schlechtangezogene und Unförmige verkörpert –, zeigt, dass das Stück gegenüber Machtgefügen nicht naiv ist. Sosehr die türkische Familie sich in ihrer Borniertheit und Bauernschläue entlarvt, so sehr bleibt auch klar, dass einer besonders oft vom Sockel geholt werden muss, weil die deutsche Gesellschaft ihn ständig wieder neu überhöht. Das ist natürlich der deutsche und nicht der türkische Mann.

Wohltuend ist auch, dass Beschneidung weder gefordert noch verboten, weder pauschal gutgeheißen noch verdammt wird. Vielmehr spielt es mit dem Wahnsinn, dass die Familie in völliger Ignoranz des Paares entscheiden will. An das Kind zu denken, auf die Idee kommt sowieso niemand. Die Ignoranz ist also das Problem – und das ist kein exklusiv muslimisches, aber auch eines. Genauso wie die Fixierung auf den Penis (und den Phallus) keine muslimische Spezialität ist, gleichwohl diese Religion wie alle anderen auch bei der Emanzipation und Gleichberechtigung alles andere als hilfreich ist. An der Stelle ist das Stück entschieden.

Wer bei der französischen Erfolgsklamotte „Die Töchter des Monsieur Claude“, noch gedacht hatte, niemals können Deutsche sich mit dieser Leichtigkeit über tief verwurzelten Rassismus lustig machen, darf sich nun revidieren. „Vorhaut“ gelingt genau das: Klischees werden zur stumpfen Waffe, weil man sie mit ihrer Dummheit schlägt – und dabei auf keinen Fall pädagogisch wertvoll wird oder auch nur werden will.

Wie schön, dass die Premiere ausverkauft war und das Publikum offensichtlich Freude hatte.

■ „Vorhaut“ wird im Ballhaus Naunyn gezeigt, 8. 10. + 10. 10. bis 13. 10., jeweils um 20 Uhr