Die neue Berliner Operette

OPERNPREMIERE Barrie Kosky eröffnet die Saison an der Komischen Oper mit Offenbachs „Schöner Helena“. Seine Inszenierung wird zur zweiten Uraufführung des 150 Jahre alten Stücks von Jacques Offenbach

Dieses virtuose Kunstwerk ist eine schier unglaubliche Leistung des gesamten Ensembles

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Er hat seinen Intendanten-Vertrag soeben vorzeitig bis 2022 verlängert und ließ die Presse wissen, die „ersten fünf Jahre“ seien zu kurz für seine Pläne. Warum das so ist, war am Samstagabend zu sehen, nicht zum ersten Mal, aber so beeindruckend und radikal wie nie zuvor. Der Intendant Kosky arbeitet daran, in seinem Haus die Gattung der Operette neu zu definieren.

Schon vor Beginn seiner Amtszeit hatte Barrie Kosky verkündet, er wolle an der Tradition des „Metropol“-Theaters anknüpfen, und tatsächlich gehören seither Operetten der 20er und 30er Jahre zum Spielplan der heutigen Komischen Oper an der Behrenstraße. Oft allerdings reichten die finanziellen und künstlerischen Mittel nur für konzertante Aufführungen.

Aber immerhin setzte Kosky mit einer eigenen Inszenierung von Paul Abrahams „Ball im Savoy“ ein erstes Signal, dem zu entnehmen war, worum es ihm geht: nämlich nicht um die Operette, sondern um einen neuen Begriff des Musiktheaters, der weit mehr umfasst als nur diese Gattung. Operetten werden zurzeit überall gespielt, weil Regisseure gern mal mit Kitsch und Schmalz kokettieren. Sie glauben offenbar, auf diese Weise besonders zeitkritische Botschaften verbreiten zu können. Dafür interessiert sich Kosky nicht im Geringsten. Nicht bei Paul Abraham (zeitkritisch war dort höchstens die überfällige Erinnerung an die jüdisch geprägte Unterhaltungskultur Berlins) und schon gar nicht bei Jacques Offenbach.

Für Kosky ist „Die schöne Helena“ von 1864, die fast ohne Handlung auskommt, weil es sowieso nur um Sex geht, die Spielvorlage für eine unglaublich präzise ausbalancierte Synthese von Musik, Gesang, Sprache, Tanz und bildender Kunst. Das Ergebnis ist nicht Geringeres als eine zweite Uraufführung eines Werkes, die weit über die Intentionen seiner längst verstorbenen Autoren hinausgeht.

Sie dauert volle drei Stunden und ist keineswegs leichte Kost. Kulisse und Masken von Rufus Didwiszus und Buki Shiff jagen uns durch die Kunstgeschichte mit Bildern, die Max Ernst oder Hannah Höch zitieren. Henrik Nánási lässt ständig Extremversionen von Offenbach spielen, die uns dazu zwingen, die Schamlosigkeit ihrer Trivialität zu verstehen und zu hören, warum gerade sie so genial ist. Ein bisschen Wagner auf Schellack kommt auch noch dazu, Nicole Chevalier singt Piafs „Je ne regrette rien“ und Peter Renz Brels „Ne me quitte pas“.

Sechs wunderschöne Tänzer turnen uns was vor, es gibt Slapstick auf Rollschuhen, aber auch der ganze Chor ist einbezogen in die atemraubend schnelle Choreografie von Otto Pichler, die der gesamten Aufführung ein solches Tempo vorgibt, dass es gelegentlich schwerfällt, den Überblick über die ständig mit Personen und Aktionen voll gestopfte Bühne zu behalten. Aber es macht Spaß, und man lacht gerne über die unerschöpflichen Einfälle, die alle Figuren immer wieder zu kleinen Höhepunkten theatralischer Komik einladen.

Eine Komödie ist dieses Stück dennoch nicht. Es war einmal eine zeitkritisch gemeinte Satire auf die Antike, heute sind davon nur noch ziemlich sinnfreie Kalauer und dadaistische Silbenreihen geblieben. Wenn vom Hirten Paris die Rede ist, blökt Helena wie ein Schaf. So fällt es schwer, Koskys Version überhaupt einer Gattung zu zuordnen.

Denn eine Operette im üblichen Sinne ist sie nicht mehr. Sie ist vor allem ein Stück für ein Ensemble, das auf dem Weg ist, völlig neue Gebiete der Bühnenkunst zu betreten, eine pandämonische Welt in der alles möglich scheint, die aber auch von jedem Einzelnen verlangt, über alle Grenzen hinauszugehen. Zum Beispiel Nicole Chevalier. Sie kann wunderbar Mozart singen, hier aber muss sie Offenbachs Cabaret-Ton treffen, die Piaf mimen, obszön und zickig zugleich sein. Oder Stefan Sevenich, der zum Dickwanst aufgeplustert auf Rollschuhen Pirouetten tanzen muss, immer am Abgrund des Orchestergrabens entlang – und auch den Seher Kalchas spielt und singt.

Auch er kann übrigens sehr schön Mozart singen, aber es ist ungerecht, einzelne Solisten dieses virtuosen Kunstwerks hervorzuheben, das eine schier unglaubliche Leistung des gesamten Ensembles ist. Jedes Mitglied des Chors weiß jederzeit genau, wie es sich zu bewegen hat, die kleinste Nebenrolle ist minutiös ausgearbeitet. Der Applaus war nach der Premiere einhellig, und als alle an der Rampe standen, fiel auf, dass Barrie Kosky deutlich schlanker geworden ist, als man ihn in Erinnerung hatte. Es muss sehr harte Arbeit gewesen, so weit zu kommen.

■ Wieder am 17., 19., 25. Oktober