Abschied von einem demokratischen Versprechen

VORTRAG Prekäre Beschäftigungen nehmen zu: Berthold Vogel skizziert mögliche Konsequenzen

Volles Haus. „Ausgeschlossen – Berichte von verdeckten Wirklichkeiten“ heißt die aktuelle Vortragsreihe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und der BHF-Stiftung. In ihrem Rahmen referierte am Mittwoch der Göttinger Soziologieprofessor Berthold Vogel zum Thema „Im Schatten der Arbeitsgesellschaft? Vom Bedeutungsgewinn und Sichtbarkeitsverlust der Erwerbsarbeit“. Das damit angesprochene Spannungsverhältnis zwischen Gewinn und Verlust ist eine Signatur der Arbeitsgesellschaft, von der allenfalls noch einige marktradikal-postmoderne Eiferer behaupten, sie sei an ihr Ende gekommen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir leben in einer Turbo-Arbeitsgesellschaft, die alle diejenigen stigmatisiert, die keine Erwerbsarbeit mehr leisten können oder wollen. Was abnimmt, sind freilich die Sichtbarkeit und die Bedeutung der Erwerbsarbeit.

Vogel zeichnete die Spannung, die Widersprüche und die Ambivalenzen dieser gegenläufigen Prozesse in der gegenwärtigen Arbeitswelt nach. Diese wird immer noch von Erwerbsarbeit geprägt. Sie ist die sogar zum „sozialen Imperativ“ (Vogel) geworden. Aber es geht heute in der Arbeitswelt nicht primär um die durch Arbeitslosigkeit Marginalisierten oder die sogenannte Zweidrittelgesellschaft, sondern um die in Leiharbeits- oder Werkvertragsverhältnissen, Praktika oder Minijobs prekär Beschäftigten. Diese diffus strukturierte Gruppe macht heute ungefähr ein Viertel aller Beschäftigten aus und wird von Soziologen – in Anlehnung an den Begriff „Proletariat“ – „Prekariat“ genannt.

Die Situation der prekär Beschäftigten ist gekennzeichnet von Vereinzelung, mangelnden Handlungs- und Aufstiegschancen und Zukunftslosigkeit. Ihr Leben besteht – zugespitzt gesagt – darin, nach einem neuen Werkvertrag, Minijob, Leiharbeits- oder Werkvertrag Ausschau zu halten. Ungleichheit gegenüber Festangestellten, Instabilität sowie gleichzeitige enorme Mobilitäts- und Flexibilitätszumutungen bestimmen ihre Arbeitswelt, in der neue Formen der Verrechtlichung das individuelle „Recht in der Arbeit“ (Hugo Sinzheimer, 1875–1945) ersetzen. Davon ist auch ihre Lebenswelt betroffen, in der Zufall, Auszehrung und Erschöpfung (Stress- und Hamsterradsyndrome) regieren. Wie Vogel darlegte: Die Stabilisierung der Instabilität wird zum neuen Imperativ der Lebens- und Arbeitsbewältigung.

Prekäre Beschäftigung ist jedoch nicht nur ein individuelles Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Denn prekäre Beschäftigung geht einher mit einem Wandel der Arbeitskultur. „Der stilbildende Kern der Erwerbsarbeit“ und die darin enthaltenen „normativen Potentiale“ (Vogel) von arbeitsweltlicher Normalität, wie sie insbesondere der öffentliche Dienst des modernen Verwaltungs-, Rechts- und Sozialstaats in den vergangenen 130 Jahren herausbildete, schrumpft zunehmend – wegen der politisch gewollten Verknappung von Ressourcen unter der neoliberalen Parole „schlanker Staat“ ebenso wie wegen der Umstellung des öffentlichen Dienstes auf Effizienz.

Damit werden berufliche Qualifikationen der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst marktförmig zurechtgestutzt, öffentliche Güter entwertet und demokratisch legitimierte Ansprüche von Bürgern auf bloße Kundenwünsche reduziert.

Eine überfällige Debatte

Vogel machte in seinem beeindruckenden Vortrag deutlich, dass es dabei nicht um Kleinigkeiten geht, sondern um eine überfällige politische Debatte darüber, ob sich die Gesellschaft verabschieden möchte vom „demokratischen Versprechen“, das mit der Erwerbsarbeit verbunden war. Hat sich die Vorstellung überlebt, dass man die Wirklichkeit des Betriebs und der Arbeitswelt der Demokratie anpassen muss und nicht diese demokratiefremden Trends der Wirtschaft? Vogel plädierte dafür, den Betrieb und die Verwaltungen zu „Lernorten der Demokratie“ zu machen. Eine erneute Debatte über den Nexus von Arbeit, Recht, persönlicher Entwicklung und Freiheit, wie sie nach Fritz Naphtali (1888–1961) der französische Intellektuelle André Gorz (1923–2007) eröffnete, ist der Ernstfall für jede demokratische Gesellschaftsordnung. RUDOLF WALTHER