Buhrufe und Weltoffenheit

JAZZFEST BERLIN Das Jazzfest Berlin beginnt heute Abend zum 50. Mal. Anlass für ein Glückwunschtelegramm

Seit 45 Jahren koordinieren die Hörfunk-Jazz redakteure ihre „Jazzfest“-Interessen im sogenannten ARD-Gremium

VON CHRISTIAN BROECKING

Am Anfang stand die Idee, Konzerte zu ermöglichen, die gesellschaftlich notwendig sind und die andernorts nicht stattfinden. Was vor 50 Jahren unter Leitung des Kritikers Joachim-Ernst Berendt als einmaliges Festwochenereignis in Westberlin begann, entwickelte sich schnell zu einem der umstrittensten und risikofreudigsten Jazzfestivals weltweit.

Berühmt etwa für seine Konzertpremieren: Bei den Berliner Jazztagen entstand das Globe Unity Orchestra des Pianisten Alexander von Schlippenbach, das 1966 in der Philharmonie debütierte. Auch die Combo Eternal Rhythm trat 1968 erstmals beim Jazzfest auf, angeführt vom Trompeter Don Cherry, genauso wie die Berlin Dream Band, in der Lokalhelden unter wechselnden Star-Dirigenten wie Quincy Jones, Stan Kenton und Oliver Nelson spielten.

Politisierte Jazzrezeption

Widerstand und Jazz gehörten für Berendt untrennbar zusammen, im Programmheft der ersten Berliner Jazztage hatte er 1964 sogar Martin Luther King, Jr. aufgeboten, der eine Grußadresse schrieb. Darin hob der Bürgerrechtler die Bedeutung von Jazzmusikern als kulturelle Identitätsstifter hervor. Jazz, erklärte Martin Luther King, „gab der afroamerikanischen Freiheitsbewegung Kraft und Mut“.

Von Anfang an begleiteten auch Gerüchte über Filz und Erpressung die Programmpolitik des Jazzfests. Seine erste Dekade räumte gründlich mit der Illusion auf, dass Jazz mit Big Business nichts zu schaffen hätte.

1971 wurde Berendt durch einen Artikel im Spiegel schließlich zum Rücktritt gedrängt. Ganz generell, gebuht und gepfiffen wurde bei den Jazztagen in der Philharmonie oft und gerne. Es war die Zeit des Vietnamkriegs, der Nachholbedarf an US-Jazz flaute ab, im gleichen Maß wie eine Politisierung der Jazzrezeption in Europa einsetzte.

Das bekam nicht nur Duke Ellington zu spüren, der 1969 als „Nixon-Freund“ von der Bühne gebrüllt wurde. Doch es folgten auch Jahre einer zur Schau gestellten Weltoffenheit. In den achtziger Jahren galt das Berliner Jazzpublikum gar als das bravste der Welt. Damals übernahm der Schweizer George Gruntz die Festivalleitung und blieb 23 Jahre. Beginnend mit 1981 wurde das Festival auch als „Jazzfest Berlin“ von der Berliner Festspiele GmbH veranstaltet. Zu den wenigen Konzerten der Ära Gruntz, die auf Platte gebannt wurden, gehört das „Berlin Djungle-Konzert“ des Free-Jazz-Saxofonisten Peter Brötzmann. Es fand 1984 im Kino Delphi statt, und John Zorn, Luten Petrowsky und William Parker wirkten daran mit. Seine Live-Aufnahme erschien später beim Musikereigenen Jazzlabel Free Music Production (FMP), einem Aushängeschild des Free Jazz. Brötzmann war es auch, der 1969 zu den Initiatoren des Total Music Meeting zählte, das jahrzehntelang parallel zum Jazzfest stattfand.

Viel planerischer Ehrgeiz

1995 übernahm der Posaunist Albert Mangelsdorff schließlich eine gewachsene Festivalstruktur, doch die Philharmonie vermochte auch er nicht mehr mit Jazzkonzerten zu füllen. Nur in Kooperation mit Bund, Berliner Senat und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten war es gelungen, eine tragfähige Finanzstruktur zu schaffen, ein Konstrukt, das es sonst in der Bundesrepublik bloß für die Bayreuther Wagner-Festspiele gibt. Seit 45 Jahren koordinieren die Hörfunk-Jazzredakteure ihre „Jazzfest“-Interessen im sogenannten ARD-Gremium. Dass ein Festivalleiter in dieser Gemengelage schwerlich aus einer Position der Stärke heraus operieren kann, liegt auf der Hand.

Nach diversen Leitungswechseln in kurzer Folge ist mit der Jubiläumsausgabe nun auch für den Jazzkritiker Bert Noglik Schluss. Ihm gelang es seit 2011 immerhin mit viel Aufwand und planerischem Ehrgeiz, an den Exklusivitätsanspruch der Gründerjahre anzuknüpfen.

Elliott Sharps Auftragskomposition „MLK Berlin ’64“ (30. 10.), Kurt Ellings „Freedom Songs“ (1. 11.), Archie Shepps Fire Music (31. 10./1. 11.), Schlippenbachs „Celebrating Eric Dolphy“ (31. 10.) und „Red Hot“ von Mostly Other People Do The Killing (2. 11.) sind nur einige Höhepunkte im starken Jubiläumsprogramm, das sich mit der Dringlichkeit und Aktualität historischer Jazzphänomene befasst.

Aus gegebenem Anlass erscheint außerdem eine „Jubiläums-LP mit Konzertmitschnitten von Carla Bleys Auftragskomposition „Boo To You Too“ (1979) und von Schlippenbachs Globe-Unity-Auftritt von 1966.

■ Das Jazzfest Berlin findet von heute bis einschließlich 2. November im Haus der Berliner Festspiele, Akademie der Künste, A-Trane und Gedächtniskirche in Berlin statt