Entrückte Welt hinter nordöstlichen Bergen

FILMREIHE Das Kino Arsenal zeigt „Im Zeit-Kontinuum – Die Filme von António Reis und Margarida Cordeiro“ und damit fünf ganz wesentliche Werke des portugiesischen Cinema Novo

Auch die späteren, längeren Arbeiten sind politisch ambitioniert – aber emphatische Zeitgenossenschaft und die Teilhabe an aktuellen Kämpfen interessieren sie kein bisschen

VON LUCAS FOERSTER

Wovon die Filme von António Reis und Margarida Cordeiro, denen das Kino Arsenal ab morgen eine Retrospektive widmet, handeln, kann man nach dem Verlassen des Kinos nicht immer exakt ausmachen. Eines jedoch bleibt stets deutlich in Erinnerung: eine Landschaft. Trás-os-Montes, wörtlich übersetzt „hinter den Bergen“, heißt die bis heute nur dünn besiedelte, landwirtschaftlich geprägte Gegend im Nordosten Portugals, der Reis und Cordeiro ihr schmales, aus lediglich drei Langfilmen bestehendes Hauptwerk gewidmet haben. Der erste der drei (entstanden 1976) trägt gleich denselben Namen wie die Region, auch die beiden Nachfolger, „Ana“ (1982) und „Rosa de Areia“ (1989) werden dominiert von Panoramaaufnahmen einer grünbräunlichen Weite, in der die wenigen Menschen, die sie bewohnen, wie kaum signifikante Besucher wirken.

Reis und Cordeiro bedienen sich dabei zwar des Modus der Fiktion, ihre Filme fügen sich jedoch nicht in die geschlossene Form des Spielfilms, führen einen nicht zügig von A nach B, sondern versetzen einen in tranceartig entschleunigte Möglichkeitsräume. Ana zum Beispiel beschreibt in Bildern von fast schon majestätischer (dabei aber nie prunkvoll verkitschter) Schönheit die letzten Tage im Leben einer alten Frau, die Erinnerungen der Sterbenden vermischen sich mit ethnologischen Diskursen und Rilke-Gedichten.

Insbesondere „Trás-os-Montes“ und „Ana“ zählen zu den Schlüsselwerken des sogenannten Cinema Novo, einer Erneuerungsbewegung, die eng verbunden ist mit dem politischen Umbruch im Portugal der 1970er Jahre. Politisch besonders explizit ist „Jaime“, die erste gemeinsame filmische Arbeit des Duos. Dieser mittellange Dokumentarfilm entstand unmittelbar vor der sogenannten Nelkenrevolution, die 1974 ein totalitäres Regime beseitigte, das zuvor 48 Jahre lang die Politik des Landes bestimmt hatte. Reis und seine hier noch als Regieassistentin geführte Ehefrau Cordeiro porträtieren einen unlängst verstorbenen Insassen einer psychiatrischen Klinik, auf den Cordeiro während ihrer Arbeit als Psychiaterin gestoßen war. Genauer gesagt, macht der Film sich auf die Suche nach Spuren, die dieses eine periphere Leben in der Welt hinterlassen hat – und findet dabei unter anderem bizarre, klaustrophobisch anmutende Zeichnungen, in denen der psychisch Erkrankte über Jahrzehnte hinweg seine Isolation verarbeitet hatte. Sehr unmittelbar sprechen diese Zeichnungen, spricht Jaime auch von den endlosen, bleiernen Jahren der Diktatur.

Auch die späteren, längeren Arbeiten sind politisch ambitioniert – aber emphatische Zeitgenossenschaft und die Teilhabe an aktuellen Kämpfen interessieren sie kein bisschen. Den Filmen ab „Trás-os-Montes“ geht es gerade nicht darum, zu zeigen, was nach der Revolution kommt; die (inzwischen wieder krisenhafte) urbane Moderne jenes Portugals, das nach der Nelkenrevolution schnell den Weg in die Europäische Union gefunden hatte, ist dem Kino von Reis und Cordeiro zutiefst fremd. Stattdessen bleiben Reis und Cordeiro der archäologischen Methode von „Jaime“ treu, auch wenn sie in den späteren Werken nicht mehr von einzelnen Menschen, sondern eben von einem Ort ausgehen: Sie tasten den damals von allen Modernisierungsantrengungen noch weitgehend unberührten portugiesischen Nordosten, diese weltabgewandte Welt hinter den Bergen, nach Spuren verschütteter Erzählungen, Erinnerungen, Mythen, historischer wie individueller Leiden ab, nach Spuren, die teilweise weit hinter die Salazar-Diktatur zurückreichen.

Diese Methode findet ihre Entsprechung in den Landschaftsaufnahmen. Die offenbaren weniger einen Ort, der aus der Zeit gefallen ist, als dass sie dem Betrachter eine eigene Zeitlichkeit aufdrängen, die mit der Zeitlichkeit der Moderne, insbesondere mit deren Gegenwartsbesessenheit, wenig gemein hat. Und der man auch ansonsten ansieht, dass sie auf die Menschen im Zweifelsfall gut verzichten könnte. Etwas Schroffes hat diese Landschaft, wenn der Wind durch die Gräser weht, erinnert sie mit ihren Hügeln und nackt aus der sonst üppigen Vegetation ragenden Felskuppen an ein wildes, unschiffbares Meer. Immer wieder filmen Reis und Cordeiro diese Wiesen und Felsen von oben, entrücken sie damit erst recht jeglichem menschlichen Maßstab.

■ Bis 9. 11., www.arsenal-berlin.de/kino-arsenal/programm