Ein gefräßiger Künstlerkörper

KÜNSTLER BALLADE Ein Popstar avant la lettre, der das Böse begeht: Stefan Pucher inszeniert „Baal“ von Bertolt Brecht am Deutschen Theater kalt und zeitgemäß, ohne expressionistisches Überagieren

Das Publikum begehrt das Genie, für das andere Gesetze gelten, und also gibt Baal es, verrät Freunde, mordet gelegentlich und stirbt allein

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Sie sehen aus wie massakriert. Die Gesichter so bleich, die Augen so schwarz umringt, der Mund so rot und so tief wie eine Wunde eingeschnitten in die Gesichter. Irgendwann einmal waren dies Clownsgesichter, aber dann tauchten die Bösen auf wie der Joker in Batman und bedienten sich dieser Maske. Jetzt sitzt diese Maske, verschmiert manchmal und zitternd, auf den Gesichtern der Schauspieler, die „Baal“ von Bertolt Brecht im Deutschen Theater spielen. Als hätte jede einzelne der Figuren eine lange Ahnenreihe unter den Ikonen des Horrors und des Unkalkulierbaren.

Dass der Regisseur Stefan Pucher sich auskennt in den Mythen der Pop- und Filmgeschichte, ist bekannt. Sein „Baal“ aber ist keine Zitiermaschine, die mal eben bereit liegende Genrebilder einem beinahe hundert Jahre alten Text aufpfropft, weil das schick aussieht. Vielmehr scheint es, als wäre die 1918 vom noch jungen Bertolt Brecht geschriebene Ballade über einen Künstler, der gierig, grausam und mit zynischem Witz gegen jede Forderung von Empathie verstößt, geradezu die Vorlage für die später folgenden Monster.

Christoph Franken spielt Baal, anfangs in einem barocken Clownskostüm mit weit gebauschten Schultern und Hosen, die das Zurschaustellen eines gefräßigen Körpers noch gargantuesk überzeichnen. Aber er schafft es, den von expressiven Sprachbildern zitternden Text, der oft von unterdrückter Erregung und Ekel erzeugenden Visionen der Auflösung zehrt, um einige Grade herunterzukühlen. Man könnte sich ja ständig mitreißen lassen von dieser Sprache, die sich am Hässlichen und Gemeinen berauscht. Doch aller Maskerade zum Trotz widersteht diese Inszenierung der Versuchung eines expressionistischen Überagierens, das so schnell in die Rumpelkammer des Theater führt. Ihre Stilisierungen sind viel kälter und zeitgemäßer. Brechts Baal ist ein Popstar avant la lettre, der das Böse begeht, weil das ihm huldigende Publikum es ihm so leicht macht. Sie begehren das Genie, für das andere Gesetze gelten, und also gibt er es.

Ob im Salon der Bürgerlichen, wo die erste hysterisch-komische Szene spielt, mit Tabea Bettin und Anita Vulescia als überkandidelt mit ihren Selfies um sich werfende Groupies, ob in der Schenke der proletarischen Säufer, wo Baals Reduktion des Menschen auf die Triebe willkommen ist, oder im Kabarett, wo Baal der grölenden Menge den nackten Arsch zeigt – stets wollen sie mehr von seiner „Smash in your face“-Kunst.

Pucher inszeniert die einzelnen Episoden schnell. Einige intime Dialoge werden über die Filmleinwand reingeschnitten, während die vier großartigen Schauspieler, die neben Franken alle anderen Rollen übernehmen, sich für die nächste Szene umziehen. Es geht im Galopp durch die Experimente, die Baal mit seinem Leben veranstaltet. Er verrät Freunde, verlässt diejenigen, die ihn lieben, mordet gelegentlich, diskutiert mit einem Pastor, hätte nach dem Tod der Mutter doch gern deren Anerkennung, klaut Schnaps, geht in den Wald und stirbt schließlich allein. Und auch im Sterben führt er noch den Beweis, dass der Mensch auch nicht mehr als ein Tier ist und alle Metaphysik darüber hinaus Lüge.

Anfang dieses Jahres konnte man „Baal“ im Kino sehen, in einer 40 Jahre alten Verfilmung von Volker Schlöndorff, mit Rainer Werner Fassbinder als Baal und vielen seiner späteren Filmfamilie in den weiteren Rollen. Jahrzehntelang war der Film nicht zu sehen gewesen, Helene Weigel, Brechts Witwe und Inhaberin der Rechte, untersagte die Aufführung. Das Verblüffende bei der Wiederentdeckung war nun, dass man zu sehen meinte, wie sich in den sechziger Jahren Fassbinder und seine Theaterfreunde aus Brechts Text etwas herausholten, was ihr eigenes Image prägte, eine kalte und ritualisierte Form des Widerspruchs, ein Misstrauen in alle Normen und ein Auskosten des Artifiziellen als Abstandshalter zu dem, mit dem man nicht gemein sein möchte.

Puchers Inszenierung ist weniger auf einen historischen Horizont zugeschnitten. Sie verallgemeinert vielmehr das Drama des Künstlers, der sich seine eigenen Maßstäbe suchen will und letztendlich daran zugrunde geht, dass das nicht funktioniert.

■ „Baal“ wieder im Deutschen Theater 1./13. + 26. Dezember