„Unsere Eliten sind Kollaborateure“

PHILIPPINEN Francisco Sionil José, der große alte Mann der philippinischen Literatur, feiert heute seinen neunzigsten Geburtstag. Unser Autor traf ihn in Manila und sprach mit ihm über Literatur, Moro-Rebellen und die Geschichte seines Landes

■ Francisco Sionil José wurde am 3. Dezember 1924 als Kind einer Landarbeiterfamilie auf der philippinischen Hauptinsel Luzon geboren. In seinen Romanen, die in 24 Sprachen übersetzt wurden, befasst er sich mit der Kolonialgeschichte und deren Erbe. 2014 erschien sein Roman „Gagamba. Der Spinnenmann“ auf Deutsch im Horlemann Verlag (200 Seiten, 17,90 Euro, Übersetzung von Markus Ruckstuhl).

INTERVIEW RALF LEONHARD

taz: Herr Sionil José, in Ihren Romanen setzen Sie sich mit der Identität der Philippiner auseinander und mit dem Erbe der wechselhaften Kolonialgeschichte. Was haben denn die Spanier hinterlassen?

Francisco Sionil José: Zuallererst die nationale Identität. Die Inseln wurden ja nach dem spanischen König Philipp II. benannt. Dann natürlich die katholische Kirche. Eine brillante Schriftstellerin, Carmen Guerrero Nakpil, sie ist noch ein Jahr älter als ich, beschreibt unsere Geschichte so: Wir haben 300 Jahre in einem Kloster verbracht, 50 Jahre in Hollywood und drei im Konzentrationslager. Das ist eine Anspielung auf die japanische Okkupation während des Zweiten Weltkriegs. Jetzt sind wir eine Kolonie unserer eigenen reichen Elite.

Die USA übernahmen die Philippinen nach dem Spanisch- US-amerikanischen Krieg 1898. Ist aus dieser Zeit mehr Positives geblieben?

Schwer zu sagen. Der Imperialismus ist langfristig nie positiv, denn ihm liegt die Logik der Ausbeutung zugrunde. Aber die Einrichtung der öffentlichen Schulen hat Leuten wie mir zu Bildung und damit zu einer gewissen sozialen Mobilität verholfen. Gleichzeitig wurde natürlich eine Abhängigkeit von den USA etabliert. Unsere Eliten haben immer mit den Kolonialmächten kollaboriert. Sie haben sich die Gewohnheiten der imperialen Mächte zu eigen gemacht. Sodass wir jetzt eine Kolonie der eigenen Elite sind.

Sie sagen immer, der japanischen Periode von 1942 bis 1945 wird zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

Ja, weil sie so kurz war. Die entscheidende Frage ist ja die Kollaboration als politisches Faktum. Nach der Unabhängigkeit wurden die Kollaborateure von Präsident Elpidio Quirino amnestiert.

Ist Kollaboration nicht auch einfach eine Überlebensstrategie?

Für einige durchaus. Aber anderen hat sie dazu gedient, die eigenen Leute zu unterdrücken und sich zu bereichern. Wer mit dem Feind gemeinsame Sache macht, wird reich.

Es gab aber auch Widerstand.

Jede Menge. Widerstand gab es an der Basis und an der Spitze. Einer unserer größten Helden war der Oberste Richter José Abad Santos y Basco, der interimistisch die Regierung übernahm, als Präsident Quezon ins Exil nach Australien floh. Er weigerte sich, mit den Japanern zu kollaborieren, wurde auf der Insel Cebu festgenommen und exekutiert. Als moralische Frage plagt uns die Kollaboration bis heute. Die mächtigen Familien agierten in gewisser Weise wie die Jesuiten: ein Teil der Familie kollaborierte und ein anderer Teil gab sich als Opposition und protestierte auf den Straßen. Unter unserem diktatorischen Präsidenten Ferdinand Marcos verkehrten einige Jesuitenpatres im Regierungspalast Malacañang und andere demonstrierten.

Auch die Familie des heutigen Präsidenten Benigno Aquino III. soll ja kollaboriert haben.

Oh ja. Sein Großvater, Benigno Aquino, kollaborierte und fungierte als Regierungsmitglied während der Besatzungszeit.

Die USA wurden dann als Befreier gefeiert?

Natürlich. Sie würden aufs Wärmste empfangen, weil sie drei Jahre Okkupation beendeten. Von daher rührt auch unsere sentimentale Beziehung zu den USA. Für die meisten Philippiner sind sie so eine Art zweites Vaterland.

Wirtschaftsbosse und Politiker messen die Philippinen gerne an den asiatischen Tigerstaaten. Warum sind die Philippinen kein wirtschaftlich erfolgreicher Tiger?

Unsere Anführer haben keine Visionen und kein Nationalgefühl. Es gibt ein Patriotismusdefizit, das der Entwicklung dieses Land entgegensteht. Die Kolonialmächte haben das erwirtschaftete Kapital aus dem Land geschafft. Und die reichen Familien machen es nicht anders. Sie verachten die Einheimischen. Die reichen Chinesen schicken ihr Geld nach China. Und der Marcos-Clan brachte sein Vermögen in der Schweiz und in Singapur in Sicherheit. In gewisser Weise überleben wir alle dank der Geldsendungen der philippinischen Überseearbeitskräfte. Letztes Jahr waren es über 24 Milliarden US-Dollar. Aber dieses Geld wird auch nicht produktiv investiert. Es bleibt kaum Mehrwert im Land, wenn Eigenheime gebaut, Shopping Malls errichtet, Golfplätze und Wellness-Oasen angelegt und teure Autos gekauft werden. Präsident Aquino hat sich um Korruptionsbekämpfung bemüht und einige Reformen angestoßen. Aber ich fürchte, das ist zu wenig.

Sie haben ihn am Anfang unterstützt?

So kann man das nicht sagen. Aber er ist natürlich viel besser als seine Vorgängerin Gloria Macapagal Arroyo. Er hat mehrere Korrupte ins Gefängnis gebracht.

Seine historische Leistung könnte das Friedensabkommen mit den muslimischen Rebellen der Moro Islamic Liberation Front (MILF) und die Einrichtung eines Autonomiegebiets Bangsamoro auf der Insel Mindanao werden.

Dieses Bangsamoro-Abkommen ist fragil. Eine Einzelperson, die sich querlegt, kann alles zum Scheitern bringen. Und nicht alle Probleme können der Regierung angelastet werden. Ich war vor ein paar Monaten in Cotabato (auf Mindanao) und habe dort mit Moro-Anführern gesprochen, die jetzt eine Partei gründen wollen. Sie sind so zersplittert. Und das althergebrachte Datu-System [Datus sind muslimische Anführer, Richter und Kriegsherren in einer Person, Anm. RL] verhindert, dass es Fortschritt gibt. Sie führen noch immer Kriege zwischen den Clans. Ich habe ihnen ins Gesicht gesagt, „Ihr seid zu faul“. Was haben sie denn auf ihrem Land weitergebracht? Ich glaube nicht, dass die Probleme sich jetzt in Wohlgefallen auflösen werden, wenn sie einen autonomen Staat bekommen. Das Minderheitenproblem wird sich nicht lösen. Es ist ja kein Religionskrieg, der da geführt wurde. Es geht nicht um Christen gegen Muslime. Vielmehr ist es eine Kulturfrage: Die christlichen Siedler von anderen Inseln waren enorm fleißig, weil sie von null etwas aufbauen mussten. Sie mussten wirklich hart arbeiten. Die christlichen Städte prosperieren viel mehr als die muslimischen. Aber viele der Moro-Anführer wollen gar keine Entwicklung, weil sie dann die Kontrolle über ihre Leute verlieren würden.

Sie geben dem autonomen Bangsamoro also keine Chance?

Ich hoffe, dass es funktioniert. Aber es gibt ein paar Dinge, die man bedenken muss. Malaysia hat im Friedensprozess vermittelt. Mit welchen Hintergedanken? Denn die Philippinen haben einen legitimen Anspruch auf die malaysische Provinz Sabah auf Borneo. Ich glaube nicht an den ehrlichen Makler. In der Vergangenheit hat Malaysia den Konflikt auf Mindanao geschürt.

„Unsere Eliten haben sich die Gewohnheiten der imperialen Mächte zu eigen gemacht. Sodass wir jetzt eine Kolonie der eigenen Elite sind“

FRANCISCO SIONIL JOSÉ

In Europa haben wir das Problem dadurch gelöst, dass es keine Grenzen mehr gibt. Gebietsansprüche spielen kaum mehr eine Rolle.

Meinen Glückwunsch. Ich hoffe, dass das dauerhaft ist. Aber Ethnizität und Nationalismus sterben nicht so leicht aus. Man muss ja nur auf Jugoslawien und heute die Ukraine schauen. Manchmal ist Nationalismus notwendig, um ein Land zusammenzuhalten. In einem kolonialen Kontext kann er positiv sein. Ich ziehe ja den Terminus Patriotismus vor. Die Philippinen sollten patriotischer sein. Wir sind so zersplittert und das verhindert, dass wir eine echte Nation sind. Als Philippiner suche ich immer Elemente, die uns einen und nicht solche, die uns trennen.

Was eint euch?

Die Geschichte natürlich und die Kultur. Ich war gerade auf Vortragstour in den USA. Und da habe ich gesehen, wie groß das Bedürfnis der dort lebenden Philippiner ist, ihre Identität auszudrücken. Es gibt aber auch viele, die sich schämen, dass sie als Hausmädchen in Singapur oder als Prostituierte in japanischen Bars arbeiten müssen.

Gibt es eine Lösung?

Ich bin ja immer für eine Revolution eingetreten. Ich war sogar ein Sympathisant der maoistischen New People’s Army (NPA). Früher war sie nicht doktrinär. Aber die unteren Klassen lassen sich eher von religiösen Scharlatanen begeistern.

Also schreiben Sie lieber.

Ich schreibe immer. Meine jüngere Tochter ist meine Verlegerin. Solange ich nicht an Altersschwachsinn leide, wird sie mich nicht vom Schreiben abhalten.