Inga Impératrice

POP Die Musikerin als Hörerin: Inga Copeland entwirft bei ihrem Berlinauftritt ein minimalistisches audiovisuelles Gemälde

Die Stimme hat den Tod der Instrumente überlebt. Darauf kommt es bei der Aufführung an

VON ELIAS KREUZMAIR

Einen Tisch und einen Körper. Das ist alles, was man braucht, um Musik zur Aufführung zu bringen, ob es sich nun um dunklen Elektropop, Oldschool-HipHop oder Dubsounds handelt. Vermutlich sind es weit mehr und vor allem die in den letzten zwanzig Jahren hinzugekommenen Strömungen, für die das zutrifft: Man braucht einen Tisch, um Sampler, Effektgeräte, Platten- und CD-Spieler abstellen zu können, und man braucht einen Körper, mit dem man wippen oder schwingen kann, um dem Publikum zu zeigen, dass da etwas mitzufühlen ist.

Diese These schienen die anlässlich der Reihe „Kometenmelodien“ in der Kantine am Berghain in Berlin auftretenden KünstlerInnen demonstrieren zu wollen. Keine Rockpotenz war hier zu bestaunen, keine herumzappelnden, publikumsgeilen Rapper, sondern minimalistische Gemälde der audiovisuellen Art. Erwartungsgemäß war die Meistermalerin an diesem Abend Inga Copeland: Als die Estin ihre Basstruppen in flackerndem Stroboskoplicht durch den Trockennebel losmarschieren ließ, war klar: Alles andere war nur Vorspiel.

Stehend und konzentriert ihr Dubraumschiff steuernd, wenn sie denn einmal in den Lichtblitzen und Nebelschwaden zur erahnen war, erinnerte sie einerseits an Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“. In ihrer Distanz zum Publikum andererseits hätte sie auch ein Solo-Tableau-vivant eines Herrschergemäldes sein können – Inga Impératrice im schwarz-weißen Kleid.

Die Wahllondonerin, einst bekannt als die weibliche Hälfte des Duos Hype Williams, führte ihr Solodebüt „Because I’m Worth It“ mit einigen Erweiterungen auf. Wie die anderen KünstlerInnen des Abends griff sie dabei größtenteils auf Samples zurück. In diesem Zusammenhang wirkten eine kleine Glocke und eine Harmonika in ihrer Winzigkeit nur wie Zitate von richtigen Musikinstrumenten, Ableitungen, so wie die Versatzstücke, aus denen die restliche Musik collagiert ist. Dazu passt, dass Copeland wie ihre KollegInnen selbstverständlich Kopfhörer aufhatte: die Musikerin ist Hörerin.

Copeland hat ihre musikalische Sozialisierung vor allem dem MTV der 1990er Jahre zu verdanken. Im Nachwende-Estland war der Musikkanal einer der bunten Botschafter des Westens. Ihre Musikkarriere begann, so sagt sie selbst, mit Hype Williams. Vorher sei sie musikalisch nicht aktiv gewesen.

Der Sampler ist jenes Gerät, das diese musikalische Erziehung produktiv macht: Musikerin zu sein, das heißt in diesem Fall nicht, ein Instrument zu beherrschen, sondern die Versatzstücke stimmig zu kombinieren – und in Copelands Fall mit einem tief dubbigen Bass zu unterlegen.

Auch bei ihren Lyrics geht sie so vor: Beispielsweise im Track „Diligence“, in dem sie Snoop Dogg mit dem Wu-Tang Clan kombiniert. Im Gegensatz zu ihren Quellen rappt Copeland jedoch nicht, sondern singt. Trotz aller Samples gilt für alle KünstlerInnen des Abends: Die Stimme hat den Tod der Instrumente überlebt. Darauf kommt es bei der öffentlichen Aufführung von Musik an: Dass da jemand ist, die oder der singt. Deswegen gibt ein DJ keine Livekonzerte, sondern legt auf, und deswegen ist das Abspielen der Musik zu Hause etwas anderes, als vor einer Bühne zu stehen.

Das muss auch Copeland, die Ideale von der genialen Künstlerin stets von sich weist, zugestehen: Dass das Publikum kommt, um ihre Stimme zu hören. Dass ihr Album – nimmt man Streams einmal aus – nur im Selbstverlag und in limitierter Auflage auf Vinyl erschien, deutet darauf hin, dass sie das begriffen hat. Das Konzert fordert eine Konzentration auf ein Kunstwerk heraus, deren Intensität sonst vielleicht nur noch der Kinosaal garantiert. Das hieß an diesem Abend: Ein halber Spielfilm lang eingehende Betrachtung eines Tisches und eines Körpers über dem Nebelmeer.