Bildstörung inbegriffen

SCHAUSPIEL FRANKFURT Der Regisseur Kai Voges bringt „Endstation Sehnsucht“ mit einer großen Lust an Kinoeffekten und -geschichte auf die Bühne

Die Zuschauer verfallen dem grobkörnigen Realismus des gefilmten Theaters so wie die Figuren dem Schnaps

Im herrlich kitschigen Schlussbild schwebt die himmelfahrende Blanche DuBois erst über allem, um dann endlich in ihrem eigenen Universum anzukommen: eine traurig tragische Rinnsteinprinzessin, die im weißen Kleid und mit Diadem auf der zerrütteten Frisur barfüßig auf der Riesenbühne des Schauspiels Frankfurt bebt. Regisseur Kay Voges, im richtigen Leben Intendant des Schauspiels am Theater Dortmund, beschert ihr ein zauberhaftes Ende, ohne sich um die Wirklichkeit zu scheren.

Tennessee Williams’ theatraler Dauerbrenner „Endstation Sehnsucht“ aus dem Jahr 1947 spielt bei Voges in einem zeitlosen Immer. Zu Anfang strandet Blanche mit ihren Koffern in einer zwielichtigen Straße vor einem schäbigen Haus. Dort lebt ihre Schwester Stella mit ihrem polnischstämmigen Ehemann Stanley Kowalski vor sich hin, bis Blanche mit ihrer überspannten Verrücktheit alle(s) durcheinanderbringt. Gemeinhin begegnet uns diese Frau als nervenschwach empfindliches Wesen von äußerster Zartheit; bei der Schauspielerin Stephanie Eidt tritt indes eine dunkle Härte hinzu. Ihre Vornehmheit ist dabei von Anfang an nur Fassade.

Blanches Geschichte samt ihren schönen Träumen von der Wirklichkeit bilden das Zentrum des Stücks, wobei sich Blanche und Stephanie Eidt gleichermaßen als große Tragödinnen erweisen, im Leben wie im Irrsinn. Dabei scheint diese Frau in Frankfurt weniger Opfer der eigenen Selbsterschöpfung als unheilbare Borderlinerin, die wir bei kindischen Höhenflügen, rührenden Liebesanbahnungen und brutalen Auseinandersetzungen erleben. Zum Ende hin erscheint sie dann so verrückt wie manche den Abend begleitende Bildstörung.

Denn wieder einmal rückt Kay Voges dem Theater mit den Mitteln des Kinos zu Leibe. Gemeinsam mit seinem bewährten Videokünstler Daniel Hengst verdoppelt und verdreifacht er das Geschehen. Zwei Kameramänner auf der Bühne filmen, was sie sehen. Rechts und links des vergleichsweise kleinen Bühnenausschnitts ragen große Leinwände empor. Auf denen sehen wir manchmal dieselben Szenen, einmal spiegelverkehrt, einmal nicht, und dann wieder rechts etwas anderes als links. Das tatsächliche Geschehen auf der Bühne wirkt im Nu nicht mehr interessant, sodass man die längste Zeit des Abends nur die Leinwände bestaunt, dem grobkörnigen Realismus verfällt wie die Figuren dem Schnaps.

Die Wirklichkeit auf dem Theater kommt plötzlich geradezu mickrig daher, und das Kino erweist sich erneut bigger than life. Die geniale Bühne von Daniel Roskamp verbindet mehrere Räume mit dem Draußen, inklusive Feuertreppe und Pick-up. Dann und wann zieht das alles wie in einer ruhigen Kamerafahrt an uns vorüber. Die Verweise aufs Kino sind zahlreich, es gibt einen Vorspann und auch einen Schriftzug „Ende“, letztendlich aber dient die Hinwendung zum Kino dem Theater. Der Film präsentiert sich hier als eine weitere Möglichkeitsform der Bühne.

Es wird live gefilmt und live geschnitten. Jeder Abend wird also anders werden, die Flüchtigkeit des Augenblicks bleibt gewahrt, so wie sich das fürs Theater gehört. Dabei inszeniert Kay Voges das Stück als ungeheuer handfeste und kraftvolle Sozial- und Seelenstudie fernab jedweder Südstaatenromantik. Stella (Claude De Demo) tritt als lieb ordinäre Cowboybraut auf, die nicht merkt, wenn ihr eine Brustwarze aus dem T-Shirt rutscht. Ihren Stanley spielt Oliver Kraushaar als erwartbaren Prolo von nebenan, der seine Aggressionen herausröhrt wie ein brünstiger Hirsch. Als Zuschauer darf man sich fühlen wie in einer Filmmischung aus David Cronenberg, David Lynch, Animation und Horror-B-Movie. Fade wird das selbst in der Überlänge von 2 Stunden und 15 Minuten nicht.

SHIRIN SOJITRAWALLA