Das kalte Auge

FOTOGRAFIE Der Mensch im Sucher, der Finger am Abzug: Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt mit „RealSurreal“ Meisterwerke des Avantgardeprojekts Neues Sehen

Irgendwann aber wird man stutzig. Denn manches Neue scheint das Alte zu sein

VON RALF HANSELLE

Endlich eine Stunde null! Nach all den zurückliegenden Fotoausstellungen zum Ersten Weltkrieg endlich eine Bilderschau, die am „Grande Guerre“ schnurstracks vorbeizieht. Man kann es auch nicht mehr sehen: Verdun in Farbe, Langemarck im Luftbild. „Helm ab, Helm ab! Wir haben verloren!“

Regelrecht aufatmen will man also, wenn man derzeit das Wolfsburger Kunstmuseum mit seiner Ausstellung zur Fotografie zwischen 1920 und 1950 besucht. Unter dem Titel „RealSurreal. Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie“ hat dort Haus-Kurator Björn Egging versprochen, Höhepunkte der Fotografie des „Neuen Sehens“ zu präsentieren.

Endlich also Fotografie nach dem Ende des Grauens. Denn der Krieg, so schien es, hatte Tabula rasa gemacht. Überall brach mit einem Mal das Neue an. Neues Bauen, Neues Sehen, Neue Sachlichkeit. Wo gestern noch Pictorialismus und Salonkultur herrschten, da gab es mit einem Mal Montage und Experiment. Auf-, Unter- und Schrägansichten. Schattenspiel und stürzende Linien.

200 Fotografien aus der renommierten Münchner Sammlung des Filmproduzenten Dietmar Siegert sollen in Wolfsburg diesen Sprung ins radikal Neue dokumentieren. Von der Neuen Sachlichkeit bis zum Surrealismus, von Herbert Bayer bis zu Max Ernst, Brassaï oder Man Ray. Wenn die Argonnen der Tiefpunkt des Fühlens waren, so war Weimar zweifelsohne ein Glanzpunkt des Sehens.

So zieht man denn frohgemut in den mehr als hundert Meter langen Ausstellungsschlauch hinein und bestaunt Höhepunkte aus August Sanders Mappenwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ oder Detailaufnahmen von Pflanzen, die auf den Fotografien von Albert Renger-Patzsch oder Fred Koch wie frühes Industriedesign wirken. Es sind wahre Ikonen der Avantgarde, selten so dicht beieinander. Da gibt es eine ganze Wand mit Fotogrammen von Man Ray oder eine berühmte Aufsicht auf eine Straße von Umbo.

Irgendwann aber wird man stutzig. Vor den unzähligen vertikalen Blicken in die Tiefe von Städten, Landschaften und Straßen hält man inne. Denn manches Neue scheint das Alte zu sein. Hatte nicht schon der Kriegsschriftsteller Ernst Jünger darauf hingewiesen, dass zwischen Krieg und Lichtbild eine subtile Verwandtschaft bestünde? Technik, so Jünger, sei Uniform; Fotografie ein unverletzliches Auge. Gerade das Luftbild sei für ihn daher nur Ausdruck eines Kampfes gegen den Schmerz.

So gesehen erscheinen plötzlich die unzähligen Vogelperspektiven, die es in Wolfsburg zu entdecken gibt, wie eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Es ist der Blick der Kälte, der hier immer noch vorherrscht. Egal, ob etwa der einstige Bauhaus-Schüler Werner David Feist eine Berliner Straßenszene von oben betrachtet oder ob László Moholy-Nagy von seinem Dessauer Balkon hinab eine Abschiedsszene von Livia Klee festhält. Überall herrscht dieses distanzierte Sehen von Kampfpiloten.

„Neue Höhenkunst“ nannte denn auch 1921 ein Aufsatz in der Photographischen Rundschau diese ungewöhnlichen Perspektiven. Es war eine Kunst, in der die Welt verflachte. In der jener sezierende Blick eines Fliegertypus dominierte, wie ihn Paul Wolff 1929 in seinem Selbstporträt „Gesicht des Sportfliegers“ verewigt hatte. Geschützt durch eine riesige Brille schaut der Fotograf hier hinab auf eine Welt von Zwergen und Miniaturen, von Mustern und geheimnisvollen Naturstrukturen.

Selbst das eigene Ich war vor dem Höhenkoller nicht mehr gefeit. Umbo etwa, einer der sicherlich stilbildendsten Fotografen am damaligen Bauhaus, fotografierte sich 1930 mit Sonnenbrille an einem Strand liegend. Die Kamera hatte er auf diesem frühen „Selfie“ zum Himmel gestreckt. Auf seinem sonnenverwöhnten Gesicht bildete sie einen breiten Schatten.

Neue Massenbewegung

Der Mensch im Sucher, der Finger am Abzug. Wer den Parcours mit Vintages, historischen Fotobüchern und Zeitschriften durchläuft, der ahnt, wie sehr sich die Ästhetik des technisierten Krieges in die Nachkriegsstädte hineingefressen hatte. „Krieg dem Kriege“ war eben noch lange nicht Frieden. Das kalte Auge befand sich zwar nicht mehr hinter Theodolit und Zielfernrohr, doch mit den nun massenhaft verkauften Rollfilmkameras wurde auf das Zivile gezielt. So wurde das „Neue Sehen“ zu einer Massenbewegung. Eine Spex populi. In Berlin ebenso beheimatet wie in Paris oder Prag.

„RealSurreal“ zeigt die Avantgarde-Fotografie in voller Breite. „Nicht der Schrift-, sondern der Fotografie-Unkundige wird der Analphabet der Zukunft sein“, schrieb László Moholy-Nagy ahnungsvoll in jenen Jahren. Einer Zukunft, die aber vielleicht nicht 1920, sondern bereits 1914 begonnen hatte.

Waren es anfangs nur experimentierfreudige Avantgardisten, die ihre Kamera gegen die gewohnten Blickwinkel richteten, so fand sich die neue Bildsprache bald in massenhaft verbreiteten Magazinen wie UHU oder der Berliner Illustrierten Zeitung wieder. Selbst die konventionellen Amateurmagazinen erkoren das „Neue Sehen“ zur vorherrschenden Geschmacksrichtung. Spätestens als 1929 die legendäre Ausstellung „Film und Foto“ eröffnete, war die Avantgarde am Gipfel angekommen. Vom Trendsetter zur Massenästhetik. Für anderes war kaum noch Platz: für den Schmerz, die Trauer, die tiefen Gefühle. Irgendwo musste der Krieg doch hin. In Wolfsburg verschwindet er in der Kälte.

■ Bis 6. 4. 2015 Kunstmuseum Wolfsburg, Katalog (Wienand Verlag) 34 Euro