Melange des Verderbens

NS-GESCHICHTE Eine Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors über die Endphase des Zweiten Weltkriegs in Deutschland macht deutlich, wie das Naziregime bis zum letzten Tag unter Wahrung einer scheinbaren Normalität selbst eigene Gefolgsleute ermordete

Mochte Dresden auch untergegangen sein – schon eine Woche danach fuhren wieder Straßenbahnen durch die Trümmerlandschaft

VON KLAUS HILLENBRAND

Die Idylle ist gestellt: Auf einem Propagandafoto anlässlich des Weihnachsfestes im Jahre 1944 ist ein älterer bärtiger Mann in Uniform zu sehen. Im Hintergrund steht ein Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen. Im Vordergrund aber, im Arm dieses Volkssturmmanns, erkennt man eine Panzerfaust.

Das Foto steht ganz am Anfang einer Sonderausstellung der Berliner Topographie des Terrors, an dem Ort, wo die Gestapo in unterirdischen Zellen ihre Gefangenen quälte, und es macht eine Seite der umfassenden Choreografie deutlich, mit der das NS-Regime bis in den eigenen Untergang das deutsche Volk an seine Seite zu ziehen trachtete. Denn dieses Bild ist nicht einfach nur militaristisch-völkischer Kitsch. Es appelliert an die Dreifaltigkeit von Brauchtum, Treue und Kampfesbereitschaft bis zum Letzten.

„Wir kapitulieren nicht“

Tatsächlich stellt das Foto nur eine Methode dar, mit der das Regime sicherstellen wollte, dass der NS-Staat nicht etwa vorzeitig auseinanderfallen sollte. Insgesamt war es, so der Historiker Peter Steinbach vor der Eröffnung der Schau, „ein Krieg gegen das eigene Volk“, der da geführt wurde, und das Weihnachtsbild war noch die harmloseste Inszenierung. „Wir kapitulieren nicht, niemals“, hat Adolf Hitler noch 1945 erklärt. Wie aber konnte es geschehen, dass der weitaus größte Teil der deutschen Bevölkerung scheinbar wie die Lemminge diesem Ruf folgte anstatt sich umstandslos den Alliierten zu ergeben? Schließlich musste spätestens zur Weihnacht 1944, nach der gescheiterten Ardennenoffensive im Westen und kurz vor dem Großangriff der Sowjets im Osten, jedem auch nur halbwegs klar Denkenden deutlich gewesen sein, dass dieses Reich seinem Ende entgegenging.

Die Berliner Ausstellung weiß die Antwort: Es war vor allem, jenseits der Durchhalteparolen, der nackte Terror, der die Deutschen bis zum Schluss gefügig machte. Das, was Regimegegner, Zwangsarbeiter, Juden und andere vorgeblich „Minderwertige“ seit 1933 in immer gesteigerter Form erleiden mussten, traf nun sowohl die Zivilbevölkerung als auch die Soldaten. Es traf die stillen Kritiker, die Mitläufer und selbst überzeugte Nationalsozialisten, die zu dem Schluss gekommen waren, dass ihr Leben vielleicht doch wertvoller sein könnte als ein um ein paar Wochen verlängerter Krieg. Tausende Menschen fielen in den letzten Kriegsmonaten Standgerichten zum Opfer. Zehntausende starben in zu „Festungen“ erklärten Städten wie in Breslau oder bei sinnfreien Kommandoaktionen der Wehrmacht. Man musste kein Widerstandskämpfer gewesen sein, um zu hängen.

Eine weitere Zutat dieser umfassenden NS-Choreografie, auf die die Ausstellung mit Fotos hinweist, war die unbedingte Aufrechterhaltung des Scheins von Normalität. Mochte Dresden auch untergegangen sein – schon eine Woche danach fuhren wieder Straßenbahnen durch die Trümmerlandschaft. Und schließlich zählte zu den Methoden des NS-Auslaufregimes die Verteufelung des Feindes. Nicht nur die sowjetischen Soldaten wurden als „Untermenschen“ dargestellt. Auf einem Plakat sieht man pickelige G.I.s der U. S. Army neben wehrlosen deutschen Kindern. Das Zeugnis trägt den Untertitel „Roosevelt stellt Gangster, Kidnapper, Zuchthäusler in die Armee ein“.

Nun war es allerdings so, dass diese umfassende Melange aus Hetze, Terror und vorgespielter Normalität zur Umsetzung einiger Herren mehr bedurfte als nur Hitler und Konsorten. Wie viele Fanatiker dem „Führer“ noch folgten, bleibt naturgemäß bis heute ungewiss, sicher allein ist: Es waren nicht wenige. Unterlagen schon die Deutschen dem Terror des Regimes, so litten darunter erst recht die noch lebenden NS-Gegner jedweder Couleur. Doch für sie galt, anders als für die meisten Deutschen, dass die alliierten Bomber die Freiheit und das Leben versprachen – so wie dem Juden (und späteren Quizmaster der ZDF-Show „Dalli Dalli“) Hans Rosenthal, der, versteckt in einer Berliner Kleingartenkolonie, die NS-Zeit überstand und an den ein Foto erinnert, das ihn mit seinem später ermordeten Bruder Gerd zeigt.

■  „Deutschland 1945. Die letzten Kriegsmonate“. Topografie des Terrors Berlin: bis 25. Oktober 2015. Eintritt frei, Katalog 15 Euro