Vermessen und kontrollieren

KOMÖDIE In seinem jüngsten Film „1.001 Gramm“ geht der norwegische Regisseur Bent Hamer der Frage nach, wie viel das Leben wiegt. Der Humor ist eher trocken

VON BARBARA WURM

Dass das Leben im goldenen Westen an die unerträgliche Leichtigkeit des Seins gekoppelt ist, machte Milan Kunderas Kultroman vor 30 Jahren deutlich. Mit philosophischen Kalibern wie Parmenides, der das Leichte dem Schweren vorzog, oder Nietzsches „Ewiger Wiederkehr“ (das „schwerste Gewicht“) wurde das Funktionieren einer der elementarsten Seinsmetaphern überhaupt durchgespielt. Aber der Existenzialismus von damals ist nicht mehr. Perfektionierung, Professionalisierung und Rationalisierung haben Einzug gehalten in unsere schöne neue Welt. Besonders deutlich wird das dort, wo die Verhältnisse am geordnetsten sind: in Skandinavien. Bent Hamers „1.001 Gramm“ geht hier der Frage nach, wie viel das Leben wiegt.

Marie arbeitet für das norwegische Eichamt. Sie misst und kontrolliert, kalibriert und justiert. Anlaufabstände auf Skisprungschanzen, das Lottokugelsprungfederprojekt und Benzinpumpen sind ihre Spezialität. Selbst fährt sie ein Mini-Elektroauto, ihr Körper trägt kein Gramm zu viel, und auch ihre Wohnung wird immer leerer (der Ex hat noch den Schlüssel und räumt). Das einzige Dreckschlupfloch in ihrem Leben bildet der hastige Zigarettenverzehr in der engen Bürogebäuderitze, der Aschenbecher klinisch rein im Safe verstaut. Hinterlassen Rauchschwaden Spuren?

Marie raucht mit ihrem Vater. Schon Ernst Ernst (so sein Name) hat das einfache Glück von Bauernhof und Heuhaufen eingetauscht gegen die vakuumdichte Laborwelt jenes Vermessungsphantasmas, das vor allem eines zu bieten vorgibt: Sicherheit durch die präzise Herstellung und Überprüfung von Bezugspunkten und Referenzwerten. Nach seinem Tod (zu viel Calvados) tritt sie sein Erbe auch beruflich an, denn rund um den nationalen Kilo-Prototyp ist ein fundamentaler Streit ausgebrochen: waschen oder nicht waschen, bevor es ans Wiegen geht. Die Neu-Kalibrierung steht an. Über Vergleichbarkeit als Messbarkeit definiert sich unsere Internationalität.

Mit dem zweifach gebotenen Ernst der Lage übernimmt Marie die Aufgabe, das sanctuarium nationale zum Kilo-Kongress nach Paris zu transportieren. Eine Reise mit Folgen, nicht nur für den Prototyp. Denn an die Stelle des alten Fixpunktes (Maries Vater) rückt nun ein neuer Mann im Leben, der nicht ganz zufällig Gärtner ist und ein sehr anderes Forschungsprojekt verfolgt: Er „misst“ – immerhin –, wie sich der Gesang der Vögel ändert, je näher diese an die Stadt heranfliegen. „Sie wollen kommunizieren“ lautet die lakonische Schlussfolgerung des Franzosen, und das tun die beiden dann auch, in einer schön mittig positionierten Badewanne, wobei die Längenmessung des betroffenen Organs dann eher unpräzise verläuft.

Es ist die Balance zwischen konkreter Materialität und abstrakter Idee, die Bent Hamers „Existenzialismus light“ auszeichnet. Schon in „Kitchen Stories“ (2003) hielten sich Wissenschaftsfetisch (dort: das Haushaltsforschungsinstitut) und die Einsamkeit des Einzelnen (dort: des Mannes) die Waage. Was sich sukzessive verschiebt, ist der Humor. In der gebotenen szientistischen Diktion: Der Trockenheitsgrad nimmt zu, je näher wir uns dem Epizentrum des Daseins nähern. Dass ausgerechnet die Romanze am Ende steht, mag Genrekonvention sein. Noch nüchterner betrachtet: eine Art Berufsflucht ins Private.

■ „1.001 Gramm“. Regie: Bent Hamer. Mit Ellen Michelsen, Sabine Schwedhelm. Norwegen/Deutschland/Frankreich 2014, 91 Min.