Die Seele der georgischen Nation

POSTSOWJETISCHES ITALIEN Ein Streifzug durch Georgiens Literatur und die östliche Meditérranée

Tiflis ist multikulti, war es schon immer. Die wechselhafte Geschichte Georgiens hat sich in die seiner Hauptstadt eingeschrieben

VON SOPHIE JUNG

Medea schaut von einer hohen Säule auf den Hafen der Grenzstadt Batumi. Es ist die drittgrößte Stadt Georgiens. Auf der einen Seite die Ausläufer des Kaukasus, auf der anderen das Schwarze Meer. Die graue See schwappt ruhig an Batumis Kieselstrand, Wasserfontänen drehen Pirouetten zum Sound eines Stadt-DJs.

Es hat mal eine glanzvolle Zeit in Batumi gegeben, als „die Rothschilds und Nobels“ um 1900, wie die Autorin Nino Haratischwili schreibt, mit dem Öltransfer zwischen Kaspischen und Schwarzen Meer Geld ins Land brachten. Damals entstanden Hotels mit neobarocken Fassaden an der Strandpromenade. Noch 1964 besang das polnische Quintett Filipinki in seinem Schlagersong „Batumi“ die Stadt für die Sowjetbürger, die sich hier in den Sommern der östlichen Meditérranée erholten. Die Medea-Statue gab es damals noch nicht. Erst seit 2007 ragt sie vom zentralen Platz hervor, der heute zukunftsweisend Europaplatz heißt.

Aus dem Batumi von Aka Mortschiladze hingegen, einem der bekanntesten Gegenwartsautoren Georgiens, versuchte man zu fliehen, über die Grenze in den Nato-Staat Türkei. Aber es waren nur „Verrückte und Tollkühne“, die sich zu Sowjetzeiten nicht „vom flackernden Licht der Grenztruppen auf der Wasseroberfläche abhalten“ ließen. „Eine Stadt riecht nach Flucht“, betitelte Mortschiladze 2009 seinen Essay.

Flucht und Sommerfrische – nicht nur in Batumi kommen die Unvereinbarkeiten Georgiens zusammen. Geopolitisch schwierig gelegen, war das Land Jahrhunderte Spielball zwischen den Großmächten. 2018 ist Georgien nun Gastland der Frankfurter Buchmesse. Die Vorbereitungen der Verlage laufen bereits an, die Messe ist eine große Chance für das kleine Land, sich in Europa zu präsentieren.

Spielball der Mächte

Mortschiladze erzählt in seinem Essay auch, wie in Batumi am 18. November 1983 eine Aeroflot-Maschine von Tiflis nach Leningrad Halt machen sollte, die eine Gruppe junger Sowjetbürger in die Türkei zu entführen versuchte. Sie scheiterten. Moskau reagierte hart. Die Entführer wurden zum Tode verurteilt. Ihre Familienangehörigen – Ärzte, Schauspieler, angesehene Bürger der georgischen Gesellschaft – wurden geächtet.

Das Land war eine der reichsten Republiken der UdSSR, ein sowjetisches Italien zwischen Großem und Kleinem Kaukasus. In Moskau trank man seinen Wein und aß seine Zitrus- und Kakifrüchte. Dawit Turaschwili arbeitete 2001 in dem Theaterstück „Jeansgeneration, ein verspätetes Requiem“ die Flugzeugentführung von 1983 erstmals literarisch auf. Er wurde zum Sprachrohr einer Generation, die Georgiens Schritt in die Unabhängigkeit von 1991 miterlebt hat. Ein weiterer Roman, „Westflug“, ist in diesem Jahr auf Deutsch erschienen.

Die georgische Schwarzmeerküste zog sich einmal 400 Kilometer lang fast bis ins russische Sotschi. Auf den Zerfall der UdSSR folgten jedoch territoriale Auseinandersetzungen mit Russland, Kriege, die mit den Abspaltungen Südossetiens und Abchasiens endeten.

Georgische Literaten wie Irakli Samsonadze (2002 in „The Cushion“) und Zaza Burchuladze (2008 in „Adibas“) begannen sich damit auseinanderzusetzen. Auch in Tamta Melaschwilis Roman „Abzählen“ von 2010 handelt vom Krieg, vom Bürgerkrieg. Grauen und Banalität zugleich bestimmen Melaschwilis Roman, der Krieg erlebt von zwei Teenagern.

Anna Kordsaia-Samadaschwili hingegen schreibt über ein Leben nach dem Krieg. Ihre überspannt zynischen Geschichten von Männern, Frauen, Sex und Enttäuschung aus dem Band „Ich, Margarita“, die in diesem Jahr auf Deutsch erschienen sind, spielen zumeist in der Hauptstadt Tiflis (Tbilissi). Hier trinkt der Armenier Petrowitsch „starken und siedend heißen Tee“, die Kurden „kommen mit ihrem Aischa-Gedudel“, und Mandana gesteht sich lieber auf Russisch ein, dass Max „doch eine Seele von Mensch ist“.

Tiflis ist multikulti, schon immer gewesen. Die wechselhafte Geschichte Georgiens hat sich in die Hauptstadt eingeschrieben. Orthodoxe, apostolische, katholische, sunnitische, sephardische und aschkenasische Gotteshäuser zwängen sich in die ergraute Altstadt. Am Vorabend der kurzweiligen ersten Republik (1917–1921) blickte man nach Europa und holte mit einem Pariser Art déco, einem preußischen Klassizismus und einem Budapester Jugendstil ein Abbild von Weltstadttum nach Tiflis. In Kordsaia-Samadaschwilis Geschichten erscheint das Zusammenleben dieser vielen fragil. Eine Hinterlassenschaft der Stalinära und der Deportationen ganzer Volksgruppen ist ein tiefes gesellschaftliches Misstrauen.

Dunkle Schatten

Der dunkle Schatten des Georgiers Josef Stalin liegt auch über der Familienbiografie in Nino Haratischwilis „Das achte Leben (Für Brilka)“. Noch auf den letzten der 1.200 Seiten ihres Generationenepos erinnert die Autorin an den Generalissimus: „Warum ist es bei Ihnen so flach, Lewrenti?“, und der georgische Geheimdienstchef, bis zu den Knien in einem Blutmeer, erwidert: „Ich stehe auf den Schultern Josef Stalins, mein Herr.“

Stalins monumentale Säulenhallen säumen noch heute Tiflis’ großen Rustaweli-Boulevard. Dazwischen die geschwungene Poparchitektur des Deutschen Jürgen Mayer H., der der Favorit des 2012 abgewählten Präsidenten Michail Saakaschwili war. Selbst Tankstellen in kahlen Gebirgszügen machte der Architekt zu ästhetischen Erlebniswelten von Saakaschwilis wirtschaftsliberalen Georgien. In der Hauptstadt konkurrieren seither Glasgebilde mit der Samewa-Kathedrale. Die wurde 2004 als „Symbol der nationalen und religiösen Wiedererstehung Georgiens“ errichtet und gilt als größter Kirchenbau Transkaukasiens. Sowjetkultur, Wirtschaftsliberalismus, klerikaler Nationalismus – es clasht in dieser Stadt. „Kill Tbilissi“ heißt Giorgi Maisuradzes phantasmagorischer Roman von 2013. Das „wahre“ Tiflis ist hier verschwunden, ein Geheimorden kämpft im Untergrund um seine Wiederauferstehung.

In Batumi steht die Medea, und in Tiflis hat auf dem Freiheitsplatz der heilige Georg den einstigen Lenin ersetzt. Georgiens Tradition tritt wieder in das öffentliche Bild. Die Geschichte des Landes, die Königreiche der Antike, das christliches Mittelalter sind Bezugspunkte für eine eigenständige kulturelle und nationale Erzählung.

Auf der Suche nach der „Seelengeschichte seines georgischen Volks“ blickte 1973 Otar Tschiladse auf das antike Kolchis in der Stadt Wani. Hier – heute ein 4.000. Einwohner-Dorf – soll König Aietes im Besitz des Goldenen Vlieses gewesen sein. Hier soll seine Tochter Medea aus Liebe zu Jason ihr Land verraten haben. Den antiken Mythos verfolgte Tschiladse in seinem Roman „Der Garten der Dariatschangi“ nach Medeas Flucht jedoch nicht weiter. Er blieb vor Ort und setzte ein fiktives Geschehen in Wani fort. Sein Buch wurde erst 2014 ins Deutsche übersetzt und gilt als moderner Klassiker der georgischen Literatur.