Erzähler des verlangsamten Lebens

LITERATUR Ein einzigartiges Seelenbeschreibungsvermögen und eine vielleicht etwas beflissene Allzugenauheit: Stephan Thomes neuer Roman, „Gegenspiel“, ist psychologischer Realismus auf der Höhe der Zeit

Realismusprogramm heißt nicht einfach nur, dass die Leserin wiedererkennt, was ihr schon vertraut ist

VON EKKEHARD KNÖRER

Stephan Thome war also noch nicht fertig mit Hartmut Hainbach und Maria Pereira, dem Ehepaar in der Krise. Einen großartigen Roman lang, „Fliehkräfte“ hieß er, war er den beiden gefolgt: Maria, Portugiesin, theateraffin, Ende vierzig; Hartmut, Deutscher, Philosophieprofessor von mittleren Graden, Ende fünfzig: ein Paar in der Krise, die sich verschärft, als Maria in der zweiten Hälfte des Lebens beschließt, noch einmal einen Aufbruch zu wagen. Von Bonn nach Berlin. Von Mann und Tochter im gemeinsamen Haus in die eigene Wohnung. Von Hartmut, dem sie treu bleiben will, zu Falk, dem Theater-Ex-Revoluzzer, der sie als Assistentin für ein neues Projekt engagiert. Die Tochter, Philippa, ist gerade aus dem Haus und hat ihr lesbisches Coming-out. Maria weiß es schon länger, Hartmut erfährt es sehr spät. Das die Konstellation, die in „Fliehkräfte“ bereits auserzählt schien.

Obwohl „Fliehkräfte“ beide zu Wort kommen ließ, war das doch ein Hartmut-Roman: Alles war durch seine Augen gesehen, mit seinen Gedanken gedacht; war sein Überdruss, seine Verzweiflung, seine Post-Midlife-Crisis. Der neue Roman, „Gegenspiel“, präsentiert nun die Kehrseite der Medaille. Er setzt nicht, was die Logik seriellen Erzählens wäre, in einer Art zweiten Staffel das Angefangene fort. Vielmehr unternimmt er eine konsequente Umperspektivierung. Die ganze Chose noch mal, jetzt aber als Marias Geschichte. (Interessant, dass die soeben mit dem Golden Globe ausgezeichnete neue Serie „The Affair“ Folge für Folge ungefähr das Gleiche versucht.) Vieles, das nur Andeutung war oder im Schatten lag, kommt nun ins Licht.

Marias Jugend in Lissabon etwa, da hieß sie noch Maria Antonia. Von ihrer Entjungferung wird in Erinnerungsrückblenden erzählt, von den Jahren ihres Studiums in Berlin, in denen sie mit Falk Merlinger, dem Dramatiker und Regisseur, erst die Kreuzberger WG, dann auch das Bett teilte.

Thome setzt bei all dem nicht auf Überraschungseffekte. Manches weiß man nach der Lektüre von „Gegenspiel“ genauer, vieles sieht man schärfer, es geht um Differenzierung und Vertiefung, um das Hinzufügen von Tönen und Farben, nicht selten auch um die Relektüre einzelner Szenen. Um die Lösung eines Rätsels – des Rätsels Maria – geht es jedoch nicht. Und gewiss hat jeder der beiden Romane für sich seinen Reiz – wie liebevoll und genau Thome die Züge seines Gegenspiels orchestriert, erweist sich jedoch einzig in der Doppellektüre; der neue Roman schließt auch den Vorgänger noch einmal ganz anders auf.

Den Thome-Leser wird all das nicht wundern. Im Kern von Thomes Romanpoetik liegt kein Vereindeutigungs-, sondern ein Differenzierungsprogramm. Wer das „psychologischer Realismus“ nennt, liegt nicht verkehrt. Aber es ist psychologischer Realismus auf der Höhe der Zeit. Der Realitätsausschnitt ist sicher recht schmal: Die Bücher spielen in bürgerlichen Bildungsmilieus. Der Protagonist des Debüts, „Grenzgang“, war knapp vor der Professur an der Uni gescheitert. Hartmut reüssiert, wenngleich er sich für die Karriere doch mehr erhofft hat. Realismusprogramm heißt nicht einfach nur, dass die Leserin wiedererkennt, was ihr schon vertraut ist; man erkennt sogar das wieder, was man nicht kannte. Möglichst hohe Auflösung ist das Ziel, was nicht unbedingt heißt, dass man alles versteht; aber noch die Unschärfebereiche sind ganz präzise entworfen. Man kann, auch das heißt „psychologischer Realismus“, über Thomes Figuren sprechen, als wären sie wirkliche Menschen.

Ausgenüchterte Sprache

Was Thome tut, hat also Grenzen. Es gibt einen Zug darin, der ist einfach nur bieder, weil Thome oft eher beflissen ausmalt als freihändig tupft, weil nichts aus dem Handgelenk kommt. Innerhalb seiner Grenzen ist Thome jedoch oft ziemlich groß. Die Sprache ist eine, die hinstellt, nuanciert, sich dem Denken der Figuren anzuschmiegen versucht. „Grenzgang“ war noch verliebt in mehr oder minder extravagante Vergleiche („Wie ein Wal mit offenem Maul war dieser Tag auf ihn zugeschwommen“); eigentlich hat das – auch als erlebte Figurenrede – nicht gut gepasst, eine äußerlich bleibende Zutat.

Thome hat seine Sprache seither auf sehr konsequente und überzeugende Weise ausgenüchtert, sie ist von einer trockenen Geschmeidigkeit, sein Metier sind der Dialog, die Beschreibung und der das innere und das äußere Leben beobachtende Blick. Der Erzähler ist kein „raunender Beschwörer des Imperfekts“ (Thomas Mann), er sucht und bietet nicht den souveränen Zugriff auf Gegenwärtiges und Vergangenes – die charakteristische Technik dieses Schreibens ist vielmehr der ständige Wechsel ins protokollförmige Präsens, das auch die vielen Dialogszenen entfaltet.

Thome ist stark darin, seine Figuren beim Zögern, beim Nachdenken und in schwierigen Interaktionen mit anderen zu beschreiben, mit den Nächsten, mit Halbfremden, mit den Nächsten, die sich, wie manchmal man selbst, von einem Moment auf den andern als Halbfremde erweisen. Seine Kunst ist keine Kunst des Urbanen, eher der Provinz; sie ist weder ästhetisch noch politisch, noch sonst irgendwie vornedran, sondern sie widmet sich mit großer Geduld langsamen, verlangsamten Leben. Und wandelt dabei auf einem schmalen Grat zwischen einem in der deutschen Gegenwartsliteratur einzigartigen Seelenbeschreibungsvermögen und einer vielleicht etwas beflissenen Allzugenauheit; sie ist sehr erwachsen, mit allen Schwächen und Stärken.

Die Schwächen: Das ist alles oft wunderbar in der Schilderung von Szenen, Momenten, Miniaturen. Aber es liest sich eben auch immer wieder: wie gut recherchiert. In den früheren Büchern hat das Gleiten zwischen den Zeiten und den Figuren sehr gut funktioniert. Hier jedoch knirscht es, der Maria-Monoperspektive zum Trotz. Es stimmt etwas nicht mit den Rhythmen, man spürt, wie da einzelne Teile hin- und hergeschoben, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt worden sind. Manches wirkt mehr klug gebaut als wie aus dem Leben. Das ist natürlich nur für eine Kunst, die auf Wirklichkeit zielt, ein Problem. Wenn der Realismuseffekt nicht den Eindruck des Vertrauten erzeugt, sondern zwischendurch als Effekt sichtbar ist, wird die Arbeit am alludierenden Anschein zwischendurch auch für den Leser zur Last.

Viel Vergangenheits-Stoff

Aber es gelingen Thome eben im besten Fall Szenen, in denen die Figuren anschaulich, aber nicht durchsichtig werden. Opak, auch für sich, bleibt Maria über viele hundert Seiten hinweg. Mal impulsiv, mal zögerlich will sie nicht, was sie will; entscheidet sich nicht für das, was sie gewählt hat; erträgt den Mann kaum, den sie liebt, noch weniger Falk Merlinger, zu dem sie (nicht wirklich) zurückkehrt – und am wenigsten des Letzteren aus dem Revoluzzerhaften ins Ranzige gekipptes Theater, für das sie sich vor Hartmut dennoch ins Zeug legt. „Gegenspiel“ ist psychologischer Realismus als Ambivalenzkunst. Aber auch eine Ermittlung in Sachen Maria. Warum setzt sie die Ehe aufs Spiel? Wie wurde sie die, die sie ist? Das sind die Fragen, denen das neue Buch nachgeht.

Beim Versuch, sie zu beantworten, schleppt Thome viel Vergangenheits-Stoff an, deutlich mehr als in „Fliehkräfte“, wo die Gegenwart im Vordergrund stand: Diesmal geht es um Marias Jugend in Lissabon, die frühen Achtziger in Berlin-Kreuzberg, das Nuller-Jahre-Berlin, dazwischen trübe Jahre in Bergkamen und Bonn. Alles gut recherchiert, die Kulissen sind wichtig, die Details sollen stimmen im Dienst von Realismuseffekten. Und mutmaßlich tun sie’s, Heiner Müller als Dozent im Gießen der frühen Achtziger zum Beispiel: passt. Verlagswelt, akademisches Milieu: kommt hin. Die stille Verzweiflung der Provinz, der aufdringliche Nachbar, die Fernsehseriensucht: mehr als plausibel. Das sind die Stärken.

■ Stephan Thome: „Gegenspiel“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 464 Seiten, 22,95 Euro