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: Er hat sich eine Kippa gekauft

„Schnee von gestern“ (Dokumentarfilm D/Israel 2013; Regie: Yael Reuveny)

Sie hat viel vom Holocaust geträumt, sagt die Tochter. Es ist weniger geworden, seit sie in Deutschland lebt

Michla Schwarz hat erfahren, dass ihr Bruder noch lebt. Die Familie wurde in der Schoah fast vollständig ausgelöscht, aber nun steht sie kurz nach Kriegsende am Bahnhof von Lodz und wartet darauf, dass Feivke, wie es verabredet war, zur Wiedervereinigung der Geschwister erscheint. Sie wartet vergeblich und hält ihn fortan für endgültig tot. Michla Schwarz zieht nach Israel, hat eine Tochter, eine Enkelin und einen Enkel. Sie stirbt im Jahr 2001.

Wenige Jahre vor ihrem Tod hat sie aber noch eine verstörende Nachricht aus Deutschland erreicht. Es schreibt ihr ein Mann, der behauptet, er sei Feivkes Sohn. Nur dass Feivke nicht Feivke hieß, sondern Peter. Er sei 1986 gestorben, habe aber im brandenburgischen Schlieben eine Familie gegründet, er, Uwe, sei eins der drei Kinder. Michlas Tochter und die Enkelin recherchieren und stellen fest, dass die schwer zu fassende Geschichte tatsächlich stimmt. Sie erzählen es Michla, die aber will davon nichts wissen. Sie hat Deutschland und die Deutschen verflucht bis ans Ende ihres Lebens. Und ein Mann, der eine deutsche Nichtjüdin heiratet und im Land der Mörder lebt, als wäre gar nichts gewesen, kann ihr Bruder nicht sein.

Drei Generationen

Yael Reuveny ist die Enkelin von Michla Schwarz. Sie lebt zum Entsetzen ihrer Mutter Esther seit 2005 als Filmemacherin in Berlin. In „Schnee von gestern“ erzählt sie die Geschichte ihrer Familie in drei Überlebenden-Generationen, vor allem aber geht sie dem Schicksal ihres Großonkels Feivke/Peter Schwarz nach. Sie fährt nach Schlieben, wo er mit knapper Not im dortigen Außenlager des KZ Buchenwald überlebt hat. Danach aber ließ er sich genau hier nieder, gründete eine Familie und verdiente als Verkaufsstellenleiter der HO-Läden sein Geld. Freunde erinnern sich an einen freundlichen Mann, man sieht Fotos des jüngeren und des älteren Herrn. Die Kinder wussten vom KZ, wussten von seiner jüdischen Identität, aber von der Schwester hat er niemals erzählt.

„Schnee von gestern“ ist die Geschichte dieser Recherche. Der Film ist in drei Kapitel geteilt: erste, zweite, dritte Generation. Yael Reuveny, selbst sehr oft im Bild, hält das zusammen, als Erzählerin, als Fragende. „Träumst du nie vom Holocaust?“, fragt sie ihre sieben Jahre nach dem Krieg geborene Mutter. Nein, das tue sie nicht, versichert die Mutter. Sie hat viel vom Holocaust geträumt, sagt die Tochter. Es ist weniger geworden, seit sie in Deutschland lebt. Die Mutter kann diesen Umzug ins Land der Täter nicht verstehen, aber sie schickt sich: Ich habe meinen Kindern immer Freiraum gewährt.

Mit Uwe, dem Sohn von Feivke, den Uwe nur als Peter gekannt hat, fährt Yael Reuveny nach Wilna, in die Stadt, aus der die Familie Schwarz ursprünglich stammt. In Berlin aber trifft sie Stephan Schwarz, Enkel von Peter, der den Großvater fast nicht mehr gekannt hat. Er lernt Hebräisch, studiert jüdische Geschichte, geht in die Synagoge, hat eine Israelflagge über dem Bett. Er will vielleicht nach Israel ziehen. Später sieht man ihn an der Klagemauer in Jerusalem. Er hat sich eine Kippa gekauft und betet. Eine ironische Wendung, die man sich so wenig ausdenken kann wie das ganze Schicksal dieser Familie. „Schnee von gestern“ ist ein Film, der angesichts der großen und kleinen Unfassbarkeiten, von denen er Bericht erstattet, die Ruhe bewahrt. Yael Reuveny stellt das Wundersame nur fest und setzt, dass ein jeder schon seine Gründe haben und gehabt haben wird, eher voraus, als dass sie auf eindeutigen Antworten insistiert. EKKEHARD KNÖRER

Die DVD gibt es für rund 16 Euro im Handel